Zauberwort Resilienz

Zauberwort Resilienz

18/07/2022 0 Von Marison

„Du machst das so locker.“ Aha. „Bei Jim ist das mit dem Autismus nicht ganz so schlimm anscheinend, oder?“ Hä? „Wie machst du das, dass du nicht traurig bist?“ Hm. „Widerspruch! Du musst SOFORT Widerspruch einlegen! Zur Not mit Anwalt.“ Uff. Diese Nachrichten bekomme ich relativ häufig. Ich habe lange überlegt, ob ich dazu etwas schreiben möchte, denn ich kann darüber nur schreiben, wenn ich auch etwas deutlicher werden kann. Manch eine*r wird sich dadurch angegriffen fühlen. Das ist nicht meine Intention. Vielmehr möchte ich erklären, warum ich das Jammern ganz weit von mir weghalte. Und weil ich das nicht oft genug sagen kann, hier auch nochmal: das ist meine Perspektive, meine Empfindung. Was ich hier schreibe, ist nicht allgemeingültig und nicht für jede*n richtig. Es soll erklären, warum ich mich aus vielen Trendthemen und Diskussionen rund um das Thema Autismus raushalte. Es soll andere Profile nicht kleinmachen. So wie Autismus ein Spektrum ist, ist es der Umgang damit vielleicht auch.

Vom Jammern und Meckern

Vorweg: ich mache das überhaupt nicht locker. Bei Jim ist „das mit dem Autismus“ nicht mehr oder weniger „schlimm“ als bei anderen Kindern. Und ich bin nicht traurig. Weil ich vor einiger Zeit einen Entschluss gefasst habe. Nämlich: die Umstände bestimmen nicht mehr, ob es mir gut geht oder nicht. Das klingt erstmal cool und easy. Und auch ganz schön privilegiert (das ist es auch, fair enough). Tatsächlich ist es eine Menge Arbeit. Arbeit, die sich für mich aber lohnt. Vielleicht klingt es für manche auch nach toxic posivitity. Ist es nicht, das kann ich euch versichern. Die Menschen, die mich schon länger kennen, brechen bei dem Gedanken eh in schallendes Gelächter aus. Ich bin nicht die Fröhlichkeit in Person. Ehrlich gesagt mecker und jammer ich ziemlich viel. Ich sehe gern oft das Problem und drehe es hin und her, bevor ich auch nur einen Gedanken an die Lösung verschwende. Aber so bin ich eben. Trotzdem lasse ich davon nicht mehr mein Leben bestimmen. Und ich erzähle nicht andauernd davon.

Ich verwende keine Affirmations-App. An meiner Wand kleben keine coolen Postkarten mit Motivations-Claims. Das funktioniert für mich nicht (been there, done that, ticked it off my list, didn’t work.). Ich brülle ins Kissen, wenn es mir zu viel wird. Ich habe schlechte Laune und lasse sie raus. Ich bin oft unfair und ungut. Aber ich habe – soweit ich weiß – nur dieses eine Leben und ich will es nicht damit verbringen, nur die anstrengenden Seiten zu sehen. Ich will meine Zeit nicht damit verplempern, mich ungerecht behandelt zu fühlen.

Jim sitztÖffentliches Tagebuch

Das Internet vergisst nicht. Das halte ich mir jedesmal vor Augen, wenn ich von uns erzähle. Ich denke darüber nach, dass Jim vielleicht eines Tages all die Geschichten lesen wird, die ich von ihm und uns erzähle. Und wenn der Tag kommt, dann ist mir wichtig, dass er schöne Sachen über sich liest. Und nicht, dass es unfassbar anstrengend war, dass das System uns im Stich gelassen hat, dass ich gelitten habe. Er soll wissen, dass wir für ihn gekämpft haben, immer dann wenn es sinnvoll war. Aber niemals soll er das Gefühl haben, er sei abgehängt worden, „hinten runter gefallen“, missachtet worden oder ähnliches. 

Ich stelle mir manchmal vor, meine Eltern hätten ein öffentliches Tagebuch über mich geführt und jede schwierige und kritische Situation über mich aufgeschrieben, aber nicht die leichten und tollen Momente. Es würde mich unfassbar treffen, kränken und traurig machen. Ich hätte vielleicht das Gefühl, mehr Ballast und Belastung gewesen zu sein als eine Bereicherung. Und das denke ich eben auch, wenn ich einige Beiträge anderer Eltern lese. Da schießt mir dann ein „hoffentlich lesen die Kinder das niemals!“ durch den Kopf. Aber: you do you. Nur weil ich das nicht gut finde, heißt das nicht, dass andere das nicht tun dürfen. Für mich ist es nur einfach nix.

Meine Nische

Der andere wichtige Aspekt in meinen Augen: ich habe mich mit dem Thema Autismus schon einige Zeit vor Jims offizieller Diagnose beschäftigt. Weil es für mich so klar war. Die Diagnose hat es einfach nur bestätigt. Es sind also schon einige Jahre. Für uns ist Autismus Teil von Jim und Teil unseres Lebens. Es ist weder Bereicherung noch Hindernis. Es ist einfach. So wichtig es ist, dass aufgeklärt und erklärt wird, so nötig ist es auch, dass auch Wohlfühl-Stories erzählt werden. Und das ist eben meine Nische. Ich fühle mich nicht gut und wohl damit, educational content abzuliefern. Dafür bin ich nicht die Richtige. Das machen andere besser. Was ich aber kann: anderen Eltern, die vielleicht gerade die Diagnose für ihr Kind erhalten haben oder mitten in der Diagnostik sind, Mut zu machen, dass das Leben mit der Diagnose nicht zu Ende ist. Sondern dass es weitergeht und nicht zwingend schlechter sein muss, nur weil es eine Diagnose gibt.

The Road Not Taken

In der Oberstufe haben wir im Englischkurs das Gedicht „The Road Not Taken“ von Robert Frost gelesen. Ich habe wirklich selten aufgepasst in der Schule, aber daran kann ich mich sehr genau erinnern, auch wenn es schon wirklich lange her ist. Ich habe es damals auswendig gelernt und es war mir ganz oft ein guter Begleiter. In dem Gedicht geht es um Entscheidungen. Und so habe ich entschieden, mich nicht ins kollektive Jammertal zu werfen. Jims Diagnose war nicht meine Entscheidung, aber eben auch „the one less traveled by“ im Vergleich zu meinen Freund*innen mit Kindern. Und ja: that has made all the difference. An Tagen, an denen ich schwermütig werde (ist nicht immer alles happy chappy), denke ich daran.

Vom Lernen und der Resilienz

Okay, auch ich habe hier schon gejammert. Ich habe gejammert über den gescheiterten Versuch, einen Pflegegrad für Jim zu erwirken zum Beispiel. Das dürft ihr mir gerne vorhalten. Nicht ganz zu unrecht auch. Wie gesagt, es ist auch harte Arbeit, meinen Entschluss durchzuziehen. Es gelingt mir auch nicht immer. Aber mittlerweile immer besser. Wie so oft: ich bin halt auch nur ein Mensch.

Ums kurz zu machen: das Zauberwort heißt Resilienz. Ich bin überzeugt davon, dass ich selbst verantwortlich bin für mein Leben. Weil ich es gut finde, wenn die Dinge gut sind, versuche ich, das möglichst optimistisch anzugehen. Auf das zu fokussieren, was funktioniert. Und zu akzeptieren, wenn ich Dinge mal nicht ändern kann. Wenn an manchen Tagen das alles nicht klappen will, mir das Adrenalin durch die Schädeldecke schießt, ich wütend, erschöpft oder traurig bin und nicht mal Robert Frost seinen Dienst tut, dann hilft: atmen. Probiert das mal. Inhale the good shit, exhale the bullshit.   

 

Header Image: © Ollie

 

The Road Not Taken

by Robert Frost

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps a better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads on to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.