Wie machst Du das? – Unser Weg
Ich bekomme erstaunlich viele Nachrichten. Über alle möglichen Kanäle. Die Nachrichten ähneln sich oft im Inhalt. Meist werde ich gefragt: Wie machst Du das? Wie verhältst Du Dich in dieser oder jener Situation? Wie habt ihr es geschafft, dass Jim so tolle Fortschritte macht? Wie kannst Du so entspannt bleiben? Ich verrate euch jetzt mal was…
Ich weiß nicht, wie ich das mache. Und ich bin sicher nicht entspannt. Das Leben mit Jim gleicht oft einem Blindflug. Es ist ein ständiges Abwägen und Austesten. Was geht, was geht nicht. Was bringt uns vorwärts, was nicht. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich mir einen Leitfaden wünschte, wie man es nun „richtig“ macht. Den gibt es nunmal nicht, deshalb habe ich mir zwei Grundsätze zurecht gelegt, nach denen ich versuche zu handeln und zu leben.
Bedingungslose Akzeptanz
Der wichtigste Grundsatz für mich ist: ich lebe das Prinzip der bedingungslosen Akzeptanz. Es ist das, was es ist. Die Tatsache, dass Jim andere Interessen und Stärken hat und in manchen Bereichen nicht auf dem festgeschriebenen Entwicklungsstand ist, habe ich akzeptiert. Haken dran, weitermachen. Auf andere Dinge konzentrieren. Die allgemeine Norm nicht zur eigenen machen. Das Leben ist zu schön und zu kurz, um etwas hinterher zu laufen, das irgendeine Stelle mal festgelegt hat. Das heißt nicht, dass ich resigniert habe. Dieser Grundsatz schützt mich lediglich davor, unser Leben mit dem Leben anderer zu vergleichen. Unser Bestreben ist nicht, Jim möglichst unauffällig und angepasst zu machen. Sondern mit ihm gemeinsam ein Leben zu führen, dass ihm und uns gerecht wird. Und dazu gehört eben auch die Akzeptanz, dass manche Dinge für uns schwieriger – oder besser: anders – sind.
Hier kann ich auch gleich einen Appell an euch richten: bitte, bitte, BITTE vergleicht eure Kinder, ihre Entwicklungsschritte und ihr Entwicklungstempo nicht mit anderen. Holt euch Inspiration, wenn ihr sie braucht. Sucht euch Trost, wenn es mal ein dunkler Tag ist. Aber – und das meine ich wirklich sehr ernst – setzt euch und eure Kinder nicht unter Druck. Es heißt nicht umsonst „Spektrum“. Die Vielfalt der Ausprägungen ist so gewaltig, dass es einfach unmöglich ist, die Fälle miteinander zu vergleichen. Und noch viel wichtiger: Autismus ist ein Lebensbegleiter. Das Kind möglichst neurotypisch erscheinen zu lassen, damit es im Leben leichter durchkommt, kann nicht der Weg sein.
Ein nonverbaler Mensch ist genauso „richtig“ wie die Quasselstrippe. Klar, ich habe großes Verständnis dafür, dass man hofft und bangt, ob man das so heiß erwartete „Mama“ jemals hören wird. Letztendlich ist aber doch die Beziehung zueinander wichtig, nicht das Wort. Was zählt, ist das man miteinander eine Form der Kommunikation findet, ganz gleich wie diese aussieht. Jims Wortschatz ist enorm gewachsen, trotzdem findet der Großteil unserer Kommunikation auf anderer Ebene statt. Das braucht Zeit. Geduld. Den Willen, diese Kommunikationsform zuzulassen. Und – Überraschung: Akzeptanz.
Gut ist, was gut tut
Der zweite Grundsatz bezieht sich auf das Austesten und Abwägen. Das Feedback kommt meist umgehend. Wir merken schnell, ob Jim etwas gut tut oder ob ihn etwas überfordert. Dieses Austesten muss sein. Wir können ihn nicht immer in Watte packen. Die Welt ist die, die sie ist (hallo bedingungslose Akzeptanz), ich werde sie für Jim nicht ändern können. Aber wir können mit ihm einen Weg finden, dass er sich in ihr zurecht findet und an Selbstsicherheit gewinnt. An manchen Tagen ist das kuscheln, an anderen das iPad, toben mit dem Hund oder einfach auf dem Boden liegen und in die Luft schauen. Gut ist, was gut tut.
Ich weiß oft nicht, was ich da tue. Wünschte ich mir mehr professionelle Unterstützung? Auf jeden Fall! Aber ich habe keine Zeit, um monate- oder jahrelang auf einer Warteliste zu stehen, um dann beim Ersttermin zu merken, dass die Chemie nicht stimmt (RW). Ich will nicht dieser Willkür und einem unfassbar schlecht ausgestatteten System unterliegen. Vor allem möchte ich von Professionisten nicht mehr die Hilfe verweigert bekommen, weil Jim „nicht autistisch genug“ ist, es gäbe schließlich „schlimmere Fälle“. Zu guter Letzt: es ist auch eine finanzielle Frage. Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass ich für jede Form der Hilfe einen grünen Schein pro Woche über den Tisch schieben muss. Das empfinde ich als zutiefst unfair.
Unser Weg ist kein Leitfaden
Weil mich das alles maßlos ärgert, verlasse ich mich auf mein Gefühl. Ich kämpfe für ihn, wenn es nötig und angebracht ist, nicht aus Prinzip. Ansonsten machen wir, was wir für richtig und gut halten. Mit der Unterstützung eines kleinen Teams aus Therapeut*innen und Kindergartenpädagoginnen. Dazu gehört viel Beobachtung, Geduld und Vertrauen auf sich selbst. Wir sind keine Autismus-Profis oder Über-Eltern. Wir sind Jims Eltern. Unsere Geduld hat auch Grenzen. Machmal gehen uns auch die Nerven durch. Wir sind Menschen. Menschen, die ihren Sohn so lieben und nehmen, wie er ist. Die nicht den Autismus „wegtherapieren“ wollen, sondern mit Jim an einem Weg in ein eigenständiges Leben arbeiten, wie auch immer das aussehen wird.
Wenn ihr mir also schreibt und mich fragt, wie wir xyz machen, dann behaltet diesen Text im Hinterkopf. Wir haben kein Patentrezept. Vieles geht auch nach hinten los (RW), das erzähle ich nur einfach nicht immer. Der Austausch mit euch ist toll und wertvoll. Ich freue mich jeden Tag darüber. Bitte bedenkt nur: unser Weg ist gut für uns. Im Moment. Er ist kein Leitfaden für andere. Vielleicht eine Inspirationsquelle. Und die niedergeschriebene Gewissheit, dass man nicht alleine ist. Auch die nach außen entspannteste Mutter hat heimlich schon ins Kissen gebrüllt und hinter der abgeschlossenen Badezimmertür geheult. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: das hat gutgetan und deshalb war es gut.
Liebe Marion, mit großem Interesse lese ich Deine Beiträge. Ich bewundere sehr, mit welcher Geduld, Liebe und Hingabe Du Dein Leben mit Jim gestaltest. Du brauchst sicher keinen Leitfaden, um den richtigen Weg für Dich und Deinen Sohn zu finden. Ich bin sicher, dass es gut ist, weiter Deiner inneren Stimme und Intuition zu folgen. Deine Beiträge sind für andere Eltern sicher sehr hilfreich. Herzliche Grüße Marliese 🌹😘
Liebe Marliese,
Wie schön, dass Du bei uns mitliest!
Alles Liebe ❤️