Wie es wohl mal wird?
„Typisch für das Alter“ heisst es, wenn Jim weinend auf der Straße steht, weil wir nicht das machen, was er möchte, weil wir nicht wissen, was er möchte. „Süß, so schüchtern“ sagen die Leute, während Jim sich hinter mir versteckt, wenn er was gefragt wird. „Na, bald kannst Du das richtig sagen“ antworten ihm die Menschen in motivierendem Ton, wenn er voller Begeisterung „haaagooooo“ statt hallo ruft. Jim ist vier Jahre alt. Noch finden ihn alle süß. Was er (noch) nicht so wie neurotypische Kinder kann, wird gern mit „ach, nur Geduld“ quittiert. Was aber, wenn das so bleibt? Finden die Menschen ihn mit acht, zwölf, sechzehn dann immer noch süß? Oder ist er dann schiefen Blicken ausgesetzt?
Ich frage mich oft, was die Zukunft für Jim bringen wird. Während andere Eltern sich fragen, ob ihre Kinder Tiermedizin oder Architektur studieren werden, schon den Fußballverein ausgesucht und den Gitarrenunterricht klargemacht haben, denken wir darüber nach, ob Jim uns mal von seinem Tag erzählen oder in welche Schule er wohl mal gehen wird. Wird er Herzen brechen? Uns mal eine große Liebe vorstellen? Übernachtungsparties mit Freunden feiern? Werden wir ihm mal peinlich sein? Manchmal bin ich neidisch auf die Eltern, die diese Eltern-Checkliste so nach und nach einfach abhaken können. Bei denen alles zwar auch nicht immer einfach, aber irgendwie in normalen Bahnen verläuft. Die von einem Tag der offenen Schultür zum nächsten laufen. Deren Playdate-Kalender für die nächsten sechs Monate ausgebucht ist und die ihre Wochenenden auf Fußballplätzen, Karateturnieren oder im Stall verbringen. So jedenfalls stelle ich mir den Alltag der Spielplatz-Eltern-Gangs vor. Darüber nämlich unterhalten sie sich, während sie sich die Pizza vor das Klettergerüst liefern lassen und Prosecco aus Kinderplastikbechern trinken, im Winter wie im Sommer. Immer irgendwie betont lässig, bloß nicht spießig wirken. Ich weiß das, weil ich genügend Möglichkeit zum Zuhören habe. Wer keinem Gesprächskreis angehört, kann nicht viel erzählen, aber eben den anderen gut zuhören. Ehrlich gesagt würde ich manchmal gern erzählen, dass Jim mittlerweile zielsicher auf Ja-Nein-Fragen antworten kann. Oder dass er mich zum tausendsten Mal beim Memory geschlagen hat. Und vielleicht würden sich die eingeschworene Playground-Crew auch ehrlich mit mir freuen, aber sie sind meistens so mit sich selbst beschäftigt, dass es keinen wirklichen Anlass gibt, das zu erzählen.
Die gute Fee
Zurück zu Jims Zukunft. Niemand kann voraussagen, wie es mal werden wird. Wie Jims Entwicklung verlaufen wird, steht in den Sternen, das werden wir auf uns zukommen lassen (müssen). Manchmal betrübt mich das, schließlich ist es ein Naturgesetz, dass Eltern sich Sorgen und Gedanken machen. Meistens versuche ich, einfach im Heute mit Jim zu sein und nicht zu sehr an morgen zu denken. Oft genug überrascht Jim uns ja auch mit Entwicklungssprüngen, die uns wirklich überraschen. Denn: wer nicht wartet, kann auch überrascht werden. Die Sache mit der Erwartung habe ich eh ad acta gelegt. Erwartung ist ein enormer Stressor. Verabschiedet man sich von ihm, ist das unglaublich befreiend. Was nicht bedeutet, dass ich bei Jims Entwicklung gleichgültig bin. Ganz im Gegenteil. Ich habe einfach nur den sozialen Standard „das muss ein Kind in dem Alter können“ für mich abgelegt, weil er für uns schlicht nicht gilt. Trotzdem haben wir natürlich Wünsche und Hoffnungen. Wenn mich heute eine gute Fee besuchte und ich drei Wünsche frei hätte, dann wüsste ich sehr genau, was ich mir für Jim und uns wünschte.
Kommunikation
Das Thema Kommunikation steht ganz oben auf meiner Wunschliste. Ich wünsche mir für Jim, dass wir mit ihm eine Form der funktionalen Kommunikation finden, die ihm erlaubt, eigenständig zu kommunizieren. Es ist egoistisch von mir zu wünschen, dass Jim eines Tages mit uns spricht. Aber natürlich wünsche ich mir das. Oft denke ich dabei, dass das Leben vielleicht auch für ihn leichter wäre, wenn er einfach sagen könnte, was er braucht. Und dann ärgere ich mich über diesen Gedanken, denn er zeigt vor allem deutlich, dass es in einem selbst total verankert ist, dass nur funktional sprechende Menschen einen Platz haben in dieser Gesellschaft. Aber wer hat das eigentlich entschieden? Jims Kommunikation muss nicht verbal sein, sondern so, wie es für ihn am besten ist. Und wenn er seine Form gefunden hat, dann ist mein Wunsch, dass die Gesellschaft diese auch akzeptiert und ihm die Chance gibt, am Leben teilzunehmen, wenn er das denn möchte. Es gibt so viele unterschiedliche Formen der Kommunikation. Wenn sich alle Menschen diesen Formen nur ein wenig öffnen, dann kann ein Miteinander doch nur großartig werden.
Geht’s auch einfacher?
Ein Thema ist besonders mühsam: der Umgang mit Ämtern und die Suche nach Unterstützung. Ich hätte das vorher nicht geglaubt. Selber in dieser Mühle zu stecken, hat mich zum Umdenken bewegt. Es fühlt sich an wie die Suche von Asterix und Obelix nach Passierschein A38. Man rennt von Pontius zu Pilatus. Dabei hat man wirklich immer mit gelangweilten Beamten zu tun, die wenig Lust haben, auch nur ansatzweise behilflich zu sein. Uns ist tatsächlich passiert, dass eine Beamtin an der Information nur einen Meter von uns entfernt saß. Mit den Füßen auf dem Tisch! Und wirklich erst dann zu uns kam, als wir die Klingel drückten, die auf dem Tresen stand. Wie in einem schlechten Film. Wenn man eine Diagnose erhält, ist man erstmal ziemlich ratlos: was mache ich jetzt? Wohin wende ich mich? Was muss/kann ich alles beantragen? Und bei wem überhaupt? Dann wühlt man sich durch unzählige Websites, die mehr Fragezeichen als Antworten aufwerfen. Letztlich hilft nur: hartnäckig bleiben und loslegen. Und es braucht Zeit. Sehr viel Zeit. Denn Wartezeiten und -listen sind unendlich lang. Wer nicht das nötige Kleingeld hat, um sich privat Unterstützung zu holen, wartet gut und gern ein bis zwei Jahre auf einen Therapieplatz. Das ist doch absurd!
Auch die Ämter lassen sich gern Zeit mit den Bescheiden. Stellt euch vor, dass Finanzamt will Geld von euch, dann sind die Fristen aber knackig kurz. Anders, wenn man selbst auf Geld vom Amt wartet. Das kann Monate dauern, bis man überhaupt mal kontaktiert wird. Und vorher musste man zig Formulare ausfüllen, für die man gefühlt vorher hätte promovieren müssen. Macht man nämlich einen Fehler auf dem Formular, kann das unlustig werden.
Was also ist mein Wunsch? Dass nach einer Diagnose schnell Unterstützung erfolgen kann. Unbürokratisch und unkompliziert. Erstmal Feuer löschen. Den ganzen administrativen Quatsch kann man ja dann immer noch regeln. Am wichtigsten ist: erstmal Entlastung schaffen für alle. Und nicht einfach nur auf eine Warteliste setzen. Das hat auch mit Service zu tun. Es ist unangenehm genug, um Hilfe zu bitten. Da wäre es toll, man müsste nicht andauernd zum Bittsteller werden. Vielleicht würde eine Checkliste helfen, auf der steht, welche Schritte man am besten in die Wege leitet, und welche Unterstützung einem zusteht. Mir hätte das sehr geholfen. Und das Therapieangebot MUSS ausgebaut werden. Damit Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen, nicht jahrelang allein gelassen werden.
Bleib Du!
Mein größter Wunsch aber ist, dass Jim so fröhlich und wissbegierig bleibt und weiterhin mit neugierigen Augen durchs Leben geht. Wenn er sich das behalten kann, wird das Leben für ihn leicht und wunderbar sein, da bin ich mir sicher. Und für mich selbst wünsche ich mir, dass ich mir in dieser Sache eine Scheibe von Jim abschneiden kann. Nicht so viel ärgern und stöhnen und ächzen. Mal wieder gut drauf sein, einfach weil’s Spaß macht!
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Dieser Artikel ist im Zuge der Blogparade von Ellas Blog entstanden, der 7-jähriges Jubiläum feiert.
Wow!!!
Auch beim Lesen sehe emotional weil halt vieles auch bei unserem Großen hier zutrifft und sich die Geschichten so ähneln die du beschreibst und wir gefühlt all das auch durch haben!
Was die Zukunft bringt werden wir ja eh sehen,dass sie spannend und toll wird das wissen wir und glauben fest daran!
Sie soll vor allem gut gelaunt werden, die Zukunft! Das habe ich mir vorgenommen! 🙂
Hallo Marison,
ich wünsche dir wirklich, dass Jim fröhlich bleibt und ihr das alles gut hinkriegt.
Ich habe inzwischen ganz viel über Autismus gelesen und viele Videos angesehen, insbesondere über tolle Therapiemöglichkeiten zB in Deutschland, mit sehr intensiver Betreuung mehrmals die Woche mindestens 5 Stunden zu Hause. In Österreich hab ich dazu noch kein Video oder vergleichbares Angebot gefunden. Aber vielen Videos ist gemein, dass die Kinder sehr gut mit Bildern arbeiten können, damit wird der Tagesablauf organisiert. Es war toll zusehen, welche Fortschritte erreicht wurden. Auch bei den Trainings, die ich gesehen habe, stand immer die Freude der Kinder im Fokus.
Die Blogs über Jim verfolge ich super aufmerksam, ich war schon beunruhigt, weil der heutige Blog einige Tage später kam. Ich bin zum Fan geworden und würde Jim auch gerne kennen lernen, vielleicht mal im Sommer am Spielplatz?
All the best für Jim!!
Wie schön, von Ihnen zu lesen!! Ja, Bilder sind tatsächlich eine große Unterstützung im Alltag. Wir nutzen das auch hin und wieder. Vielleicht sollten wir das noch intensivieren, aber zur Zeit kommen wir ganz gut zurecht. Solange Jim Spaß hat, ist alles gut.
Ich war tatsächlich diesmal etwas später dran mit meinem Artikel. Wir beenden gerade 10 Tage Quarantäne (Jim hatte Kontakt zu jemandem mit Covid, wir sind aber alle negativ). Ich habe wenig Muße zum Schreiben, wenn Jim hier rumwuselt. Ab nächster Woche wird es wieder regelmäßiger.
Und dann kehrt auch hoffentlich bald wieder eine Form der Normalität ein, dass man sich wieder treffen kann. Dann auch sehr gerne auf einem Spielplatz. Ich würde mich wahnsinnig freuen.
Bleiben Sie gesund! Alles Liebe, Marison
Hallo Marison, ich hab grad ein interessantes Video gesehen
Oscar recovering from autism through the son-rise-program
autism treatment center of america
you Tube
lg drw
Hallo Marison!
Ich lese die Beiträge in deinem Blog sehr gerne. In vielen finde ich unsere Geschichte wieder.
Was die Kommunikation von Jim angeht möchte ich dir ein wenig Hoffnung machen. Unser Großer (10) fing auch erst mit 3 – 3,5 Jahren zu sprechen an und auch nur Wörter oder Sätze die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Es war also keine gezielte Kommunikation möglich. Inzwischen sieht das Ganze anders aus. Klar versteht er nicht jede Formulierung aber man kann sich mit ihm inzwischen ganz gut unterhalten. Irgendwann im Laufe der Jahre hat es wohl einen Entwicklungsschritt gegeben der das nun möglich macht. Also vielleicht überrascht euch Jim auch in den nächsten Jahren mit so einem Entwicklungsschritt 😉 Ansonsten würde ich euch TEEACH (ich weiß jetzt nicht auswendig wie man es richtig schreibt 🙈) empfehlen wenn du das noch nicht kennst.
Liebe Grüße
Michaela
Das freut mich wirklich sehr für euch, dass ihr gut miteinander kommunizieren könnt. Wir sind gespannt, womit Jim uns noch überraschen wird. Es bleibt jedenfalls spannend und aufregend. Ich werde weiter berichten, versprochen.
Alles Liebe!
Marison
Liebe Marison,
was du hier so beschreibst, kann ich wirklich sehr gut nachempfinden. Mein Sohn ist Autist und wir haben erst sehr spät die Diagnose bekommen. Sprüche wie „oh, das wird schon noch“ oder „Jungs sind halt später“ habe ich nur zu oft gehört, auch bei den Ärzten! Mein Sohn hat erst mit 4 Jahren angefangen zu sprechen. Auch das war angeblich alles noch im Rahmen.
Mittlerweile ist mein Sohn 18 Jahre alt und wir haben teilweise wirklich schwere Zeiten durchgemacht. Aber aufgegeben haben wir nie. Er hat seinen eigenen Blog zum Thema Autismus . Wenn du möchtest, kannst du gerne mal „vorbeischauen“. Vielleicht hilft es dir und Jim ja ein wenig ;).
Ich drücke euch die Daumen, dass ihr einen guten Weg findet und drücke euch ganz herzlich.
Marion
Liebe Marion,
oooh, toll!! Danke für den Link, den Blog schaue ich mir wirklich sehr gern an!!
Bleibt gesund und passt gut auf euch auf! ❤️
Alles Liebe, Marison
Hallo, der Link würde mich auch interessieren!
Liebe Grüße,
Sonia
Liebe Sonja,
Der Link ist: http://www.tommysblog.de
Liebe Grüße, Marison
Liebe Marion,
Soo nun bin ich auch mal wieder dran, meistens gibt es ja immer einen Like oder kleinen Kommentar auf deinen Seiten von mir. Ich find es super Interessant, was du über die Ämter und Therapien schreibst.. Es ist hier in Hamburg auch nicht anders, und es ist genauso wie du sagst, sobald man eine Diagnose hat, würde man doch gerne wissen:So fang ich an, was mache ich zuerst, wer hilft mir da.. Ich habe das Gefühl dass hier grosse Verbesserung notwendig ist. Ich bin immer noch auf der Warteliste für die endgültige Diagnose 6-9 Monate hatte man mir gesagt.. Logopädie und Frühförderung sind zwar am laufen, nur können wir da noch nicht genau den Sinn hinter entdecken. Ob es daran liegt das unser Sohn Bilingual aufwächst? Ich weiss es nicht, aber, ich finde es einfach herrlich, wenn man deine Artikel liest und in dem einen oder anderen sich ebenfalls wiederfindet. Ich bin jedenfalls immer sehr gespannt was Jim für neue Erfahrungen macht, und nicht vergessen.. Immer abfeiern😁
Liebe Raphaela,
vielleicht sollten wir so eine Checkliste machen…?! Vielleicht profitiert ja mal jemand davon.
Und ja: abfeiern! Immer!!
Alles Liebe euch. Bleibt gesund!
❤️ Marison
Guten Morgen Marison, Danke für deine echt tollen Blog! Unser A-Typischer Hyperautistischer Sohn Ben ist jetzt fast sieben Jahre und hat genau so wie dein Jim begonnen, kein Wort gesprochen. Heute ist es schon viel besser. Einer der besten Dinge die Ihm und uns geholfen hat, war TEACCH ! Bilder und der genau Ablauf. Heute spricht er einige Worte, kann mit geduld und langsamer Sprache, in einzeln Worten, sich verständigen! Und wie du schon schreibst, „Wie es wohl mal wird?“ Lass dich überraschen, macht euch keinen Druck. Es kommt wie es kommt! Und Thema Schule , da kannst du dir in unseren autism4all.at Forum etwas informieren, da haben wir gerad alle Hände voll zu tun. Aber das wichtigste, lass dich nicht von unseren schlecht informierten System in Österreich / Europa nicht jagen, und gehe den Weg, der für Jim am besten ist! Liebe Grüße Andreas
….Super toll geschrieben….. genau das sind meine Gedanken… und auch unsere Biografie….
irgendwann sortiert man neu….. durch nicht so schöne Erfahrungen…
….meine fixe Idee …mein Traumwunsch….. mögen all die „normalen“ einen Beitrag von ihrer Sozialleistungen abgezogen werden….. und es erstattet bekommen wenn diese den Verwaltungs-Bürokratischen Weg gehen müssen, den wir als Eltern besonderer Kids gehen müssen….. so bleibt uns die Zeit uns ums wesentliche da zu sein mit den Geldern die zustehen….. versuche mal autistisch zu denken….
Danke für deine Gedanken
Ich hab den Beitrag gerade gelesen und er holt mich sehr ab. Ich versuche sehr im Hier und Jetzt zu leben, aber gerade da es jetzt mit dem ganzen Schulthema und dem zugehörigen bürokratischen Theater langsam aber sicher losgeht ploppen nach und nach auch alle anderen Gedanken wieder auf. Manchmal wie ein Karussell aus dem ich nur schwer aussteigen kann. Und dann sehe ich meine Tochter und wie sie so wundervoll sie selbst ist, ganz ohne Sorgen, völlig im Jetzt und weiß, dass egal was die Zukunft noch für uns bereit hält, wir immer unseren Weg finden werden, ihren Weg finden werden. Danke für deine Worte und deine Arbeit ♥️
Die Zukunft wird spannend! ❤️