What a difference a year makes
Die Veränderungen kommen schleichend. Im Alltag bemerkt man sie fast gar nicht. Man geht mit dem Flow. Alles ist so selbstverständlich. Dabei ist es genau das eben nicht. Es ist tatsächlich außergewöhnlich, großartig und bemerkenswert. Unendlich viele Minischritte sind zu einem Riesensatz geworden. Beinahe unbemerkt. Es ist Zeit, diese Veränderungen zu feiern.
Regression – wenn nichts mehr geht
Vor ein paar Tagen habe ich darüber nachgedacht, was eigentlich alles in den letzten Monaten passiert ist. Ich habe mir alte Fotos und Videos von Jim angeschaut und war mächtig überrascht. Ich hatte gar nicht auf dem Schirm, wie weit wir schon gekommen sind! Letztes Jahr im Frühjahr steckten wir knietief in einer Regressionsphase. Auf einmal ging ganz viel nicht mehr, was vorher relativ unproblematisch war. Sicher hatte das auch mit Corona zu tun und auch damit, dass wir insgesamt eine wirklich schwere Zeit hatten. Es geht nicht spurlos an Kindern vorbei, wenn die Eltern angespannt sind. Jim ging seine Toleranz für Spontaneität verloren. Überhaupt war alles, was auch nur ein wenig von der Routine abwich, nur sehr schwer für ihn auszuhalten. Und somit auch für uns. Sprachlich passierte gar nichts. Weinen, lachen, still sein – das waren die drei Zustände. Es ist mir oft schwergefallen, das auszuhalten.
Mama, Papa, Jim und Bob
Vor ziemlich genau einem Jahr löste sich ein Knoten. Nach monatelangem Üben und Dranbleiben kam es plötzlich: Jim, Mama, Papa, Bob, Omi, Opa. Es war kurz vor seinem vierten Geburtstag und ich erinnere mich sehr gut daran, wie unglaublich erleichtert ich war. Heute, ein Jahr später, kann ich kaum glauben, dass aus diesem stillen Kind eine Plaudertasche geworden ist. Und auch wenn ich an manchen Tagen denke „wenn ich noch einmal MAMAAAAAA höre, zuck ich aus“, ist es doch Musik in meinen Ohren, die ich nicht mehr missen möchte. Es sind noch ganz viele Namen dazu gekommen. Allen voran natürlich Lightning McQueen, Jackson Storm, Abschlepper Hook und Miss Fritter.
Hoffentlich nicht auf der Terrasse
Vor ziemlich genau einem Jahr war das Abgeben im Kindergarten ein Roulettespiel. Wenn alles so war wie immer – die Gruppe war schon im Gruppenraum – ging es wunderbar. War seine Gruppe noch draußen auf der Terrasse bei schönem Wetter, kam Jim aus dem Takt und war außer sich. Ich habe jeden Morgen Stoßgebete abgelassen, dass Jim gleich in den Gruppenraum gehen kann. Heute, ein Jahr später, spielt es für Jim keine Rolle mehr, ob es auf die Terrasse, auf einen Ausflug oder in den Gruppenraum geht. Er macht alles mit und wirft sich fröhlich ins Getümmel. Ein Riesenschritt! Dass er das Ungewisse morgens so toll aushält und akzeptiert, macht mich froh.
Vom an die Wand quatschen (RW)
Vor ziemlich genau einem Jahr war Jims Sprachverständnis noch sehr gering. Selbst die einfachste Anweisung war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Wir haben so gut wie alles mit Gesten begleiten müssen. Auf Außenstehende wirkte Jim vor allem oft unkooperativ. Dabei war es für ihn einfach nur unverständlich. Er wusste nichts mit unseren Ansagen anzufangen. Das mag jetzt hart klingen, aber ich hatte oft das Gefühl, mit der Wand zu sprechen. Und trotzdem haben wir weitergemacht. Ich habe Jim buchstäblich an eben diese „Wand gequatscht“ (RW). Immer und immer wieder die gleichen Formulierungen gewählt, mit Gesten unterstützt, bis es bei ihm ankam. Das hat viele Nerven gekostet. Aber es hat sich so gelohnt. Heute, ein Jahr später, versteht Jim nicht nur sehr viel mehr, er antwortet auch mit einem energischen Nein, wenn er keine Lust hat etwas zu tun, worum ich ihn bitte. Auch das ist ein toller Erfolg, auch wenn das Aufräumen seiner Spielsachen nicht unbedingt meine Lieblingsbeschäftigung ist.
Einszweidreivierfünf
Vor ziemlich genau einem Jahr war es unmöglich für uns, Dinge spontan zu unternehmen. Überhaupt etwas zu unternehmen. Jim hatte seinen Tagesablauf, der nicht gestört werden durfte. Viele haben mir empfohlen, einen Tagesplan mit Bildern zu machen, um für Jim den Tag bildlich zu strukturieren. Oft hatte ich mir das auch fest vorgenommen. Ich habe sogar ein Laminiergerät gekauft. Der Wille war da. Aber Dinge, die mir keinen Spaß machen, schiebe ich meistens so lange vor mir her, bis sie obsolet werden. So richtig konnte ich mich mit diesen Tagesplänen einfach nicht anfreunden. Also habe ich einen anderen Weg versucht: ich zähle mit Jim den Tagesablauf an den Fingern ab. So kann er sich orientieren. Selbst spontane Planänderungen können wir mit dem Abzählen gut umsetzen. Und mittlerweile nutzt Jim dieses System auch, um mir seine Wünsche für den Tag mitzuteilen.
Mama, ich will
Vor ziemlich genau einem Jahr hat Jim seine Bedürfnisse kaum mitgeteilt. Zumindest nicht verbal. Wenn er etwas selbst regeln konnte, hat er das getan. Für alles andere, hat er meine Hand genommen und mir mit Zeigen und Geräuschen vermittelt, was er möchte. Das hat mal besser, mal schlechter funktioniert. Heute, ein Jahr später, kann Jim seine Grundbedürfnisse gut äußern: „Mama, kann ich bitte einen Apfel haben?“ oder „Kannst du mir bitte helfen?“ oder „Bitte, Mama, rausgehen Spielplatz.“ Auch auf einfach Fragen wie „möchtest du etwas essen?“ oder „Bist du müde?“ kann er gut antworten. Dass das den Alltag unglaublich erleichtert, muss ich wahrscheinlich gar nicht sagen. Jeden Tag kommen neue Äußerungen hinzu. Oft ist es einfach nur eine Feststellung: „oh, raindrops, es regnet!“ Jede Äußerung ist ein Fest für mich.
Von nichts kommt nichts
All diese Veränderungen und Fortschritte sind nicht einfach so passiert. Es steckt viel Zeit, Engagement, Training und Kontinuität darin. Und sie machen mir Mut, dass wir die Dinge, die jetzt noch nicht so gut bei uns funktionieren, in der Zukunft auch noch in den Griff bekommen. Es lohnt sich, alte Videos duchzuschauen, wenn man mal wieder das Gefühl hat, dass gar nichts vorwärts geht. Meist erkennt man, dass eben doch ganz viel passiert ist, auch wenn man das im Alltag nicht so erkennt. Ich bin stolz auf uns Eltern, auf Jims Therapeutinnen und Pädagoginnen, dass sich all die Hingabe auszahlt. Besonders stolz bin ich auf Jim, der das alles so unglaublich gut meistert und – das ist das Wichtigste – Spaß daran hat. Wir können Jim nur an die Hand nehmen und ihm den Weg zeigen, gehen muss er ihn. Und er geht ihn. Mit strammen Schritten.