Wer ist eigentlich dieser Ich?

Wer ist eigentlich dieser Ich?

09/12/2020 0 Von Marison

So, jetzt mal Hand aufs Herz: welche Eltern hier sprechen von sich selbst als die Mama oder der Papa? Und wieviele von denen, die das tun, haben sich vorgenommen, das nie, nie, nie zu tun? Niemals von sich selbst in der dritten Person zu sprechen? Ich! Tatsächlich mache ich relativ wenig hier zuhause, das meiste macht die Mama. Ich will auch nicht, dass Jim aufräumt, sondern die Mama möchte, dass Jim aufräumt. Ganz schön gaga, aber der Mama-Begriff scheint mit der Muttermilch einzuschießen, dagegen kann man sich gar nicht wehren. Eine lästige Angewohnheit, die man nur schwer wieder los wird. Wenn überhaupt.

Ist die Mama schuld?

Die Mama ist hier zuhause aber nicht die einzige, die ihre Herausforderungen mit dem Ich-Begriff hat. Für Jim existiert Ich im Prinzip gar nicht. Jetzt kann man mutmaßen, dass die Mama daran nicht ganz unschuldig ist, denn die dritte Person Singular ist in unserem Haushalt sehr präsent. Und natürlich habe ich mich oft genug gefragt, ob ich es befeuert habe, dass Jim von sich selbst auch nur von Jim spricht. Ob das eine Rolle spielt, weiß ich nicht. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass der Ich-Begriff auch schwierig wäre für Jim, wenn die Mama nicht dieses total beknackte Mama-Getue machen würde. Hier meldet sich nämlich auch der Autismus zu Wort.

Seinen eigenen Namen hat Jim erst mit dreieinhalb Jahren gesagt. Das hatten wir vorher monatelang mit ihm geübt. Immer und immer wieder. Dass er Jim ist, das weiß er. Aber wer dieser Ich ist, das ist ihm nicht ganz klar. Jim spricht von sich selbst als Jim. Will er etwas haben, dann zeigt er darauf und sagt „Jimjimjimjimjim“. Nimmt auf dem Spielplatz ein Kind Jims Roller und düst ab, dann rennt Jim hinterher und ruft sein „Jimjimjimjimjim“. Möchte er, dass ich mich zu ihm setze, dann ist das „Jim Mama hiiisetze“.

Das Ich lernen

Wenn die Kinder noch ganz klein sind, geht man  ganz selbstverständlich davon aus, dass die Dinge einfach von selbst passieren, solange man ein Mindestmaß an Erziehung und IchFörderung walten lässt. Man denkt, dass jedes Kind irgendwann ganz natürlich laufen wird, die Windel nicht mehr will oder eben anfängt zu sprechen. Niemals habe ich hinterfragt, wie es zustande kommt, dass wir von uns selbst in Ich-Form reden (wenn man nicht gerade in der Mama/Papa-Phase festhängt). Warum denn auch? Es ist doch logisch und normal. Mit ungefähr drei Jahren nehmen Kinder sich selbst als autonome Wesen wahr, und spätestens dann manifestiert sich auch der Ich-Begriff bei ihnen. Ich will, ich will nicht, ich bin und so weiter. Für Jim ist das verwirrend. Schließlich sprechen wir ja von ihm als Jim. Wenn wir etwas von ihm wollen, dann sprechen wir ihn mit Namen an. Vereinfacht kann man sagen: sein Ich-Begriff ist Jim. Bei Zweijährigen mag das noch niedlich sein, bei Vierjährigen wirkt das irritierend auf andere. Und darum ist der Ich-Begriff ein erklärtes Therapieziel.

Wir trainieren also mit Jim das Ich. Das sieht ungefähr so aus: Ich stelle mich vor Jim, klopfe mir auf die Brust und sage: „ich bin Mama. Wer bist Du?“ Dann stelle ich mich hinter Jim, nehme seine Hand, klopfe ihm damit auf die Brust und wir sagen: „ich bin Jim“. Wenn er einen Apfel haben möchte, läuft das ähnlich ab: Ich frage ihn, ob er einen Apfel essen möchte, dann nehme ich seine Hand, wir zeigen auf den Apfel und sagen: „ich will einen Apfel.“ Das Bitte lassen wir noch weg, es soll ja nicht zu kompliziert werden. Für Außenstehende sieht das wahrscheinlich aus wie eine Gorillafamilie, die dem Jüngsten das Trommeln auf die Brust beibringt. Aber wenn’s hilft, machen wir uns gern zum Affen.

Und es hilft! Wenn jemand also Jim jetzt auf der Straße fragt, wer er ist, dann passiert ziemlich sicher folgendes: der Vierjährige streckt die Brust raus, schlägt sich stolz dreimal drauf (für jedes Wort einmal) und sagt sehr selbstbewusst und immer ein bißchen zu laut: „I BÜM TSCHÜMM!“ Und wer ihm dann nicht ein schallendes High Five dafür gibt, ist ein Spielverderber.