Wer die Wahl hat
„Neeeeein“ brüllt Jim, als ich den blauen Pulli aus dem Schrank hole. Ok, dann eben den grauen… „Neeeeein, weg Pummi!!“ ist die Antwort. Und so gehen wir den gesamten Kleiderschrank einmal durch, bis wir schlussendlich wieder beim blauen Pulli angekommen sind. Da gibt Jim dann auf. Ich seufze kurz und denke, dass wir das wesentlich einfacher hätten haben können, aber nun gut.
Kopf, Bauch, Herz
Die Sache mit dem Entscheiden ist ja auch nicht einfach. Ich bin darin nicht besonders gut. Als Kind scheint die Entscheidung zwischen dem grauen und dem blauen Pulli als existentiell wichtig. Später im Leben werden die Entscheidungen dann weitreichender. Ich hadere oft, muss viel grübeln, Für und Wider abwägen. Kopf und Bauch sind sich nicht immer einig. Und gerade dann, wenn sich langsam eine Entscheidung abzeichnet, kommt das Herz auch noch mit einer Meinung um die Ecke. Eine klassische Wenn-zwei-sich-streiten-freut-sich-der-Dritte-Situation. Eins aber habe ich gelernt: am wichtigsten ist es, an einem Punkt dann einfach die Entscheidung zu fällen, da geht es oft schon viel besser. Auch wenn sich die Entscheidung am Ende nicht als die ganz Richtige herausstellt. Dieser Schwebezustand, wenn alles stillsteht und es nicht vorwärts geht – der ist viel anstrengender als das Treffen der Entscheidung. Das lernt man aber wohl auch erst mit der Zeit.
Die Sache mit dem freien Willen
Jim ist gerade in einer dieser Phasen, in der Kinder ganz genau wissen, was sie nicht wollen. Und bei Jim ist das erstmal alles. Er will alles nicht! Aber manches eben schon, nur weiß er oft nicht, wie er das mitteilen soll. Warum wir ihn überhaupt wählen lassen? Ja, warum denn nicht?! Jim ist ein Mensch mit eigenem Willen! Unsere Aufgabe ist, ihn bei (und in) der Wahl zu unterstützen und zu ermutigen. Jedenfalls immer dann, wenn es angebracht ist. Manchmal müssen wir natürlich für ihn entscheiden, klar. Ginge es rein nach Jim, dann wäre jeder Tag hier eine einzige Schokokeks-, Cars- und Schlafanzug-Party. Da braucht es manchmal eben doch elterliches Einschreiten. Welchen Pulli er anziehen möchte, soll er aber ruhig selbst entscheiden können.
Entscheidungsmomente sind hier schwierig. Oft ist es sicher auch die totale Überforderung, weil die Auswahl einfach zu groß ist. Alle Eltern kennen das. Stellt euch einfach einen Eisladen mit hundert Eissorten und Waffeln in allen Farben des Regenbogens vor. Wie soll ein Kind da entscheiden, was es möchte? Bei neurotypischen Kindern spielt da sicher auch FOMO (fear of missing out) eine Rolle. Die Eisladen-Problematik haben wir zwar nicht mit Jim, weil er kein Eis mag (wirklich!), aber für Jim ist es immer extrem anstrengend, wenn er zwischen mehr als zwei Dingen entscheiden muss. Dann kommt noch dazu, dass Jim bei der funktionalen Sprache noch Herausforderungen hat und das, was er sagt, nicht immer das ist, was er auch meint.
Oder Banane
Frage ich Jim, ob er einen Apfel oder eine Banane essen möchte, wird er mit ziemlicher Sicherheit mit „oder Banane“ antworten. Damit ist die Sache für ihn erstmal geregelt. Er hat mir ja eine Antwort gegeben. Nur was diese Antwort bedeutet, hat er noch nicht ganz raus. Gebe ich ihm eine Banane, ist die Reaktion meistens „neeeeein, weg Banane, Apfn!“. Also doch der Apfel. Gut. Die Antwort „oder Banane“ ist Echolalie. Er wiederholt das, was er zuletzt gehört hat. Da wir so selten an eine Antwort kommen, die auf den ersten Anhieb sitzt, braucht Jim visuelle Unterstützung. Ich halte ihm also Apfel und Banane hin und frage ihn, was er möchte. Und was passiert dann? Genau: Jim greift bei beidem zu, knabbert sowohl Banane als auch Apfel wie ein Mäuschen an und lässt dann feierlich verlautbaren:Mööö! Dann trägt er beides mit großem Trara zum „Mööö““ (=Mülleimer), und ich kann das fast unversehrte Obst noch mit Müh’ und Not gerade so vor dem sicheren Mülleimer-Tod retten. An manchen Tagen allerdings findet er beide Optionen nicht überzeugend genug und greift doch lieber zum Schokokeks.
Damit Jim lernt Entscheidungen zu treffen, muss er auch verstehen, dass seine Entscheidungen eine Konsequenz haben. Ihm das zu visualisieren ist die – für ihn – beste Methode, damit er es versteht. Wenn er Apfel und Banane sieht und auf meine Frage, was er möchte, eins benennt oder darauf zeigt, kommt das andere weg. Das hat oft große Frustration bei ihm zur Folge, weil er eigentlich das andere (oder beides) wollte. Sobald er sich beruhigt hat, versuche ich ihm das zu erklären. Und wenn er sich wirklich wieder „geerdet“ hat, bekommt er auch das, was er eigentlich wollte.
Schon wieder die eigene Erwartung
Ganz sicher wird Jim nicht bestraft dafür, dass er nicht immer gleich sagen kann, was er möchte. Unser Zuhause ist schließlich kein Bootcamp, sondern Jims sicherer Ort. Hier wird gar nicht bestraft, sondern ermutigt, erklärt, gefeiert und unterstützt. Klingt cheesy, ist aber so. Trotzdem müssen wir ihm gleichzeitig beibringen, dass es eine Konsequenz hat, wenn er sich entscheidet. Und auch nicht ganz unwichtig: ich muss seine Entscheidung akzeptieren, wenn ich ihm die Wahl gelassen habe. Merkt ihr’s? Schon wieder meldet sich die eigene Erwartungshaltung! Denn nur weil ich vielleicht finde, dass er in dem grauen Pulli ganz besonders süß ist oder die blaue Kappe farblich besser zum Outfit passt als die rote, habe ich nicht das Recht ihm das aufzuzwingen. Und tatsächlich ist es ja auch völlig egal. An einem Vierjährigen wird sich die Fashion-Polizei noch nicht abarbeiten.
Anbiss-Regel auf der Kippe
Heute Abend werden wir ein neues Entscheidungs-Level angehen, nämlich: welchen der zig Schoko-Osterhasen wir killen und an welchem Ende wir anfangen. Gleich mehrere, wirklich wichtige Entscheidungen auf einmal! Lindt, Milka, Kinder oder No Name? Ohren, Vorderpfoten oder Hintern? Eins weiß ich sicher: ich werde es wahrscheinlich kaum aushalten, wie Jim sich entscheidet, denn sowohl bei Schokolade als auch beim Anbiss gibt es einfach Regeln, die in Stein gemeisselt sind. Die stehen fest. Aber Jim hat schon oft umgestoßen, was vermeintlich felsenfest stand. Vielleicht stellen wir heute eine neue Schoko-Osterhasen-Anbiss-Regel auf. Meine Nerven… es hat eben nicht immer der die Qual, der die Wahl hat.