Wenn sich ein Netz spannt

Wenn sich ein Netz spannt

15/11/2022 4 Von Marison

Ich bin ja besonders laut, wenn ich mich dafür ausspreche, dass Kinder wie Jim eingebunden werden sollen. Ich plädiere für Einladungen zu Kindergeburtstagen und für Playdates. Jim geht in einen Regelkindergarten. Bis jetzt hat alles immer gut funktioniert. Sicher, es ist oft auch sehr herausfordernd für Jim, aber alles in allem hat er das immer gut meistern können. Dachte ich zumindest. Wie sich meine Sicht darauf innerhalb von drei Stunden verändert hat, ist einen Beitrag wert. Also los.

Kontaktüberfluss

Ich muss dafür ein bißchen ausholen. Vor einigen Wochen hat mich die totale Überforderung überrollt. Auf allen möglichen Kanälen bekam ich Nachrichten. E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, Direct Messages auf Instagram und Facebook, Kaffee-Einladungen. Alle Nachrichten hatten etwas gemeinsam: sie kamen von Müttern autistischer Kinder, die Austausch suchten. Die Unterstützung brauchten oder einfach nur mal ein offenes Ohr. Die sich alleine fühlten in ihrer Situation. Und gleichzeitig waren alle Nachrichten auch im Ton ähnlich: sie waren immer den Kindern zugewandt. Niemand wollte die Kinder verändern, sondern man wollte den Kindern gerecht werden und für ein gutes Miteinander und Familienleben sorgen. Nur wie?

Es hat mich belastet, weil ich eigentlich rund um die Uhr Nachrichten beantwortet habe und dabei auch immer wieder erwähnen musste, dass ich keine Expertin für Autismus bin. Ich kann immer nur erzählen, wie es bei uns ist, was bei uns gut funktioniert. Und letztendlich ging es auch nur darum. Um den Austausch. Darum, sich nicht so alleine zu fühlen. Jetzt stand ich da mit ganz vielen lieben Nachrichten, die sich alle an mich richteten, dabei waren die Herausforderungen alle so gleich. Und nachdem ich nicht allen so gerecht werden konnte, wie ich es gerne wollte, war die Idee: wir treffen uns! So können sich alle untereinander austauschen und ich bin nicht mehr die einzige Ansprechpartnerin. Wir spannen ein Netz.

Ein Stimming-Fest

Event-Organisation ist nicht unbedingt meine Kernkompetenz, aber nach einigem Hin & Her hatten wir einen Termin und einen Ort gefunden. Die Gruppe hat sich selbst organisiert, was Snacks und Spielsachen betraf. Und dann war es vergangenen Samstag soweit. Jim lud zum Playdate in Wien. Wie es im November üblich ist, mussten einige wegen Krankheit noch kurzfristig absagen, aber wir waren immer noch eine respektable Gruppe von – ich glaube – zehn Kindern plus Eltern. Neben all den Müttern haben sich auch drei Väter unter die Menge gemischt. 

Das SchlachtfeldIch bin noch immer ganz gerührt, wenn ich an diesen Nachmittag denke, denn: ich hatte es mir vorher schon schön vorgestellt, aber dass es so entspannt sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Alle Kinder fanden sofort etwas zum Spielen und waren sehr entspannt. Es war ein Stimming-Fest mit viel Platz für alle(s). Es gab keine Reiberei oder Streit, es war laut und fröhlich. Und für uns Eltern? Die Rückmeldungen waren danach eindeutig: für alle war es eine neue Erfahrung. Es ist allen wohl am Anfang ein bißchen schwer gefallen, sich von alten Verhaltensmustern zu trennen für den Nachmittag und nicht andauernd ein bestimmtes Verhalten zu erklären oder zu relativieren. Aber sobald man merkt, dass es eben allen so geht, sieht die Sache ganz anders aus.

Einfach mal sein

Und so konnten sich – vielleicht für einige zum ersten Mal – Gespräche entwickeln, ohne andauernd und ununterbrochen mit einem Ohr und Auge beim Kind zu sein. Es gab keine schiefen Blicke, keine seltsamen Kommentare. Es wurde viel gelacht. Und sich ausgetauscht. Beim Treffen habe ich noch gedacht, dass der Abend sicher schwierig wird mit Jim nach dem ganzen Trubel. Und dann wurde es ein ganz ruhiger Tagesausklang. Ohne Weinen, ohne Meltdown. Und ich bin mir sicher, dass es daran liegt, dass es ein Tag ganz ohne Anspruch war. Die Kinder mussten sich nicht anpassen oder in komplexe Spiele einsteigen. Sie konnte einfach sein. Und wir Eltern eben auch. Es gab auch an uns keinen Anspruch, die Kinder „jetzt endlich mal im Griff zu haben“. Welchen Unterschied das macht, ist kaum zu beschreiben.

So haben wir an diesem Tag begonnen, ein Netz zu spannen. Einen doppelten Boden, in den wir fallen können, wenn die Tage mal schwer sind. Ein Ort, an dem wir nicht „die anderen“ sind. Sondern unter uns. Mit ähnlichen Geschichten und Herausforderungen, Triumphen und Querschlägen. Ein Infozentrum, in dem bereitwillig Kontakte geteilt werden. Es ist großartig.

Spannt ein Netz für euch!

Ich kann alle nur ermutigen: schaut, dass ihr bei euch so eine Gruppe findet. Es ist so viel wert. Vor zwei, drei Jahren habe ich mich so allein gefühlt. Also habe ich angefangen, unsere Geschichte zu erzählen. Und jetzt sehe ich, dass ich nicht alleine bin, dass es ganz vielen so geht. Eine*r muss nur loslegen und etwas ins Leben rufen. Es füllt sich dann von allein. Wir werden dieses Treffen ganz sicher in regelmäßigen Abständen wiederholen. Weil wir davon alle eine ganze Weile zehren werden.

Ich wünsche mir weiterhin, dass Jim auch bei Veranstaltungen für neurotypische Kinder eingebunden wird. Gleichzeitig werde ich mich sehr dafür einsetzen, dass es auch diesen geschützten Raum für uns gibt. Mein guter Rat: Vernetzt euch, trefft euch, engagiert euch. Ihr seid nicht allein. Das zu wissen, tut schon gut. Es wirklich zu erfahren, ist nochmal eine ganz andere Hausnummer für uns Eltern, aber auch für die Kids. Was kann es besseres für die Kinder geben als ein Fest, bei dem sie nicht „funktionieren“ müssen, sondern sie genau richtig sind, so wie sie sind? Mir ist noch für lange Zeit warm ums Herz.

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INFO

Wer in Wien (und Umgebung) lebt, den Aufruf auf Social Media nicht mitbekommen hat, aber gern dabei wäre beim nächsten Mal: schreibt mir einfach und ich füge euch gern zu unserer WhatsApp-Gruppe hinzu.      

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