Wenn jemand eine Reise tut

Wenn jemand eine Reise tut

26/07/2021 4 Von Marison

Immer wenn die Reisezeit beginnt, schwelgen Ollie und ich in Erinnerungen. Lange Autofahrten, bei ihm durch die Nacht, bei mir am Tag. Ollies schönste Erinnerung ist das Geräusch der rollenden Reifen, zu dem er auf der Rückbank eingeschlafen ist. Meine sind das weltbeste Reiseproviant meiner Mutter, Gameboy-Battles und „Der Sängerkrieg der Haidehasen“. Und natürlich, dass mein Vater uns an den immergleichen Orten fragte „woran müsst ihr denken, wenn wir hier vorbeifahren?“ und wir nie eine Antwort hatten, weil man als Kind nicht unbedingt auf vorbeirauschende Landschaft achtet, wenn man gerade den Oberboss in Super Mario erledigt. 

Hundeausrede

Jim ist auch Autoreisekind. Fliegen kommt für uns nicht wirklich in Frage. Wenn ich keine Lust habe, von meiner panischen Flugangst zu erzählen, schiebe ich den Hund vor: „das kann man dem armen Tier ja auch nicht antun.“ Ehrlich gesagt empfinde ich die Hinfahrt auch schon als Teil des Urlaubs. Im Gegensatz zu anderen Kindern kann bei Jim die Autofahrt gar nicht lang genug sein. Wie ein König thront er in seinem Kindersitz, gibt Anweisungen von hinten und hält sehr entspannt durch. 

Reisejobs für den Familienfrieden

Bei uns hat jede*r eine Aufgabe, einen Reisejob sozusagen. Ich bin zuständig für das Packen. Koffer und Auto. Seitdem wir das Kofferraum-Tetris nicht mehr zusammen versuchen, schaffen wir es sogar streitfrei auf die Jim MIniAutobahn. Ollie kann sich zwar nie ein „warum hast du das denn so in den Kofferraum getan? Anders wär sinnvoller gewesen…“ verkneifen, aber ich habe gelernt, das einfach zu überhören. Seitdem der Kinderwagen nicht mehr mit muss, ist mein Job deutlich leichter geworden. Ollie hat gleich zwei Jobs: er ist verantwortlich für die Strecke und für das Entertainment. In beidem bin ich eine echte Null. Er recherchiert vor der Abfahrt akribisch alle Baustellen und mögliche Umfahrungen, damit wir ungestört durchrauschen können. Und ich gebe zu, darin ist er auch meist ziemlich gut. Bis auf das eine Mal, als er „ganz sicher, 100%, der beste Weg!“ sich mal mächtig vertan hat, ausgerechnet auf dem Weg nach Belgien. Aber davon will ich gar nicht erzählen. Außerdem ist er der Auto-DJ. Die Playlist wird gern nach Destination zusammengestellt: Toto Cutugno und Konsorten in Italien, Johnny Hallyday and friends in Frankreich. 

Der Job von unserem Hund Bob ist, die ganze Nachbarschaft wissen zu lassen, dass jetzt das ganze Rudel ausreitet, indem er seine Aufregung lautstark kundtut. Jims Job ist, uns Fahrer*innen mit „Aaatung, aufpassel, Lastwahen“ und „Ampel rot“ zu warnen. Und mich gleich bei Abfahrt mit „Bitte Mama, kann ich bitte Schokokeks haben?“ zu quälen. Da bin ich eisern, wie meine Mutter damals. Gegessen wird erst auf der Autobahn, so viel Zeit muss sein. 

Vielseitiger DVD-Player

Pädagogisch zwar gar nicht wertvoll, aber für alle ein Gewinn: Jim hat einen Reise-DVD-Player. Da lief eine Zeitlang das ganze Disney-Repertoire rauf und runter. Und irgendwann sind ihm die Augen zugefallen. Eigentlich immer genau dann, wenn wir gerade mal Pause machen und essen wollten. Das ist eh ein Naturgesetz. Mittlerweile hat Jim kein großes Interesse mehr am Filme schauen während Autofahrten. Aber wehe wir hängen den DVD-Player ab! Der muss bleiben, den kann man nämlich super auf und zu und auf und zu und auf und zu machen. Stundenlang. Wenn das zu langweilig wird, kann man auch am Türöffner rumspielen. Jedesmal danke ich dem Himmel für die Kindersicherung! Und wenn das auch nicht mehr spannend ist, kann man den Hund noch liebevoll piesacken oder mit ihm den Zwieback teilen.

Wer rastet, rostet

Was Jim bei langen Autofahrten gar nicht leiden kann: Pause machen. Ausgestiegen wird nämlich nur, wenn man angekommen ist. Ihn nach einer kurzen Pause wieder ins Auto zu bekommen, ist gar nicht so einfach. Manchmal, wenn wir uns nur schnell etwas auf die Hand zum Essen holen, bleibt er einfach stoisch in seinem Sitz. So als fände er es fast albern, dass wir uns mal kurz die Beine vertreten, wir Luschen. Die Alten haben wirklich kein Sitzfleisch mehr. Bob allerdings findet es ganz wunderbar, selbst am ranzigsten Autobahnrastplatz mal zu überprüfen, welche Vierbeiner hier sonst noch vorbeigekommen sind. Jedem Tierchen sein Pläsierchen.

Jim will es auch nicht unbedingt gemütlich haben im Auto. Schuhe und Kappe ausziehen sind No Gos. Er sieht immer ein bißchen „allzeit bereit“ aus. Nichtmal wenn er ganz tief eingeschlafen ist, kann man ihm die Kappe abziehen. Zack, ist er wach und die Kappe wieder auf dem Kopf. Ich beklag mich nicht. So muss ich wenigstens nicht einzelne Kinderschuhe unter irgendwelchen Vordersitzen suchen. So sitzt Jim stundenlang still, freut sich über jeden Tunnel und jeden LKW, den wir passieren. Eigentlich freut er sich über alles, am meisten über die Autofahrt an sich.

Ausgetrickst!

Wir sind mit Jim schon kreuz und quer durch Europa gecruist, haben stundenlange Vollsperrungen mit ihm Jim Reise schlafenabgewartet, millionenfach mit ihm bis 10 gezählt auf allen möglichen Sprachen und unzählige Male das Intro von Robin Hood abgespielt. Jedesmal lachen wir über sein Passfoto, auf dem er gerade 8 Wochen alt ist und aussieht, als hätte er Gespenster gesehen. Und jedesmal erzählen wir uns, wie dankbar wir sind, dass Jim so entspannt ist beim Autofahren. Ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen, dass Jim jedesmal schläft, wenn wir am Ziel ankommen (das hat er von Ollie). Dann nehme ich ihn auf den Arm und trage ihn rein, während ich an eine weitere Lieblingserinnerung denke, nämlich: dass ich als Kind immer so getan habe, als würde ich schlafen. Weil ich es so gemütlich fand, wenn meine Mutter oder mein Vater mich ins Bett getragen haben nach einer langen Fahrt. Dann stelle ich mir vor, dass Jim das auch so macht, sich heimlich ins Fäustchen lacht und glaubt, dass er uns richtig ausgetrickst hat. Wahrscheinlich nicht, aber eigentlich spielt es auch keine Rolle. Wir sind angekommen, das zählt.