Wenn es rückwärts zu laufen scheint

Wenn es rückwärts zu laufen scheint

03/09/2021 2 Von Marison

Es ist nicht immer alles Fortschritt. Es geht nicht immer vorwärts. Oft steht auch einfach alles. Und manchmal hat man eben auch mit Rückschritten zu tun. Mit Phasen, in denen Gelerntes auf einmal nicht mehr geht. In denen sich Dinge, die lange Zeit ganz unkompliziert waren, plötzlich wie eine unüberbrückbare Hürde vor einem aufbauen. Über Regressionsphasen wird zu wenig gesprochen. Niemand erzählt gern davon. Aber sie sind nicht unüblich. Und sie sind schwer. Für alle Beteiligten.

Jim hat in den letzten Monaten enorme Sprünge gemacht. So viel ging ihm locker von der Hand (RW), vieles haben wir lange Zeit mit ihm geübt. Der große Zuwachs im Wortschatz, Jims neue Fähigkeit sich besser mitzuteilen, seine immer größer werdende Unabhängigkeit – all das machte unseren Alltag so viel leichter. Wir haben das sehr genossen. Und vielleicht auch zu schnell als selbstverständlich angenommen.

Ein Wechsel mit Folgen

Jim Auto bauenVor zwei Wochen hat Jim die Kindergarten-Gruppe gewechselt. Der Wechsel an sich war einfach mit ihm. Er findet die neue Gruppe toll, geht wahnsinnig gern dorthin und erzählt mir abends schon, dass er morgen unbedingt wieder dorthin möchte. Easy, cool, dachten wir. Ist ja super! Schau, er kommt eben doch gut mit Veränderungen zurecht. Nach zwei Wochen kann ich sagen: wir haben es mal wieder unterschätzt. Man lernt einfach nicht aus…

Der Wechsel in eine neue Gruppe ist eben nicht nur ein Raumwechsel. Sondern ein ganz neues soziales Gefüge, das eigene, ungeschriebene Regeln hat, die er erst greifen lernen muss. Neue Kinder, ältere Kinder. Der Umgang unter den Kindern ist wilder, es ist lauter. Die Abläufe und Strukturen, an denen Jim sich jetzt über drei Jahre orientieren konnte, sind anders. Ähnlich zwar, aber eben nicht gleich. Im Kindergarten hat Jim großen Spaß. Aber zuhause merken wir, dass er verarbeiten muss. Er ist überreizt und unruhig. Er ist mein Schatten. Ich kann mich zuhause keinen Millimeter bewegen, ohne dass Jim aufgeregt hinter mir herläuft, nicht ohne mich unzählige Mal zu fragen, ob es mir eh auch gut geht.

Mehr als Neugierde

Diese scheinbar fürsorgliche Frage ist in ein stereotypes Verhaltensmuster übergegangen, das wir kaum bremsen können. Es ist unglaublich anstrengend für ihn, man kann sich das wie eine Zwangshandlung vorstellen. Und auch mich bringt es an meine Grenzen. „Jaaa“, denken jetzt viele Eltern, „kennen wir, bei uns ist es die Warum-Frage!“ Nicht ganz. Überhaupt nicht eigentlich. Denn die Warum-Frage ist kindliche Neugierde. Jims Frage, ob es mir gut geht, ist ein Reflex. Aus Unsicherheit. Andauernd, jeden Tag. Und es ist ganz gleich, was ich darauf antworte. Solange ich überhaupt antworte, ist es gut. Es gibt ihm Sicherheit.

Druck ablassen

Die Veränderungen der letzten Wochen äußern sich nicht nur in dieser einen Frage. Jim schläft schlecht, ist aufgekratzt und unausgeglichen. Für Außenstehende mag er wie ein unerzogenes Kind wirken, das ständig bockig ist. Ich werde besser darin, die Blicke der anderen zu ignorieren und an mir abprallen zu lassen. Aber so ganz kalt lässt es mich eben nicht (RW). Jim ist stärker und größer geworden. An manchen Tagen ist es für mich sehr herausfordernd, körperlich, mental und emotional. Denn ich weiß, dass diese „unkooperativen Verhaltensweisen“ nicht gegen mich oder andere gerichtet sind. Sie sind schlicht sein einziges Outlet, um Druck abzulassen und sich mitzuteilen.

Ein Restaurantbesuch, zum Spielplatz gehen, einkaufen… diese alltäglichen Dinge sind im Moment schwer. Und solange sie schwer sind, reduzieren wir sie auf ein Minimum. Aber ganz darauf verzichten können wir nicht. Unser Leben ist natürlich sehr an Jim und seine Bedürfnisse angepasst, aber wir leben ja auch. So suchen wir immer wieder aufs Neue einen Weg, der für uns alle möglich ist. Das geht nur nach dem trial-and-error-Verfahren. Ob es etwas geht oder nicht, finden wir nur heraus, wenn wir es versuchen.

Freud‘ und Leid

Wir wissen, dass solche Regressionsphasen oft einem großen Entwicklungsschritt vorangehen. Nicht immer, aber oft. Vielleicht kann ich bald wieder erzählen, was sich bei Jim getan hat. Vielleicht auch nicht. Diese Phasen können ein paar Tage dauern oder einige Monate. Das einzige was sicher ist: irgendwann löst sich die Spannung wieder. Das ist es auch, was uns alle über Wasser hält (RW). An den Tagen, an denen ich abends ins Kissen brülle, mich ins Bad einschließe und auch mal die Nerven verliere. Freud’ und Leid liegen eben oft nah beieinander.

Jim und MamaIch will mich nicht beklagen. Aber vielleicht erklärt das, weshalb es manchmal ruhiger ist auf dem Blog. Jim ist und bleibt der tolle, großartige Junge. Der Tag wird kommen, an dem er seine innere Ruhe wiederfindet und auch wieder ausgeglichen ist. Mir bleibt nicht viel, als ihm bis dahin die Hand zu geben und mit ihm zusammen durch diese Phase zu marschieren. Und ihm zu versichern, dass es mir gut geht. Geht es nicht immer, aber dafür hat Jim immer eine Lösung: Mama, komm kuscheln. Dann wirft er seine Arme um meinen Hals und murmelt: ooh, kuscheln, lieb sein. Selbst der aufreibendste Tag wird dann gut. Für alle.