Wenn die Maske fällt
„Bis auf die bekannte Sprachbarriere gibt es überhaupt keine Auffälligkeiten, Jim ist bei allem super dabei!“ sagt Jims Kindergartenpädagogin im Entwicklungsgespräch zu mir. Alles in allem war es ein tolles, wertschätzendes Gespräch. Und natürlich haben wir auch darüber gesprochen, weshalb Jim erstmal nicht „auffällt“. Letztlich ist es so: Jim zahlt den höchsten Preis für das Maskieren. Und wir somit zuhause eben auch. Denn irgendwann müssen die Dämme mal brechen (rw).
Fluch und Segen
Dass Jim erstmal nicht besonders auffällt, ist Fluch und Segen zugleich. Für die anderen ist es erstmal nur Segen. Denn es gibt ihnen das Gefühl, dass sie keine besondere Rücksicht auf Jim nehmen müssen. Er läuft halt so mit. Er macht weder mehr Arbeit noch mehr Sorgen. Für ihn muss kein besonderes Umfeld geschaffen werden. Der neurotypische Regelbetrieb kann in allen Lebensbereichen erstmal weiterlaufen. Puh, Glück gehabt.
Für uns – Jims direkte Bezugspersonen – ist es beides: Fluch und Segen. Segen deshalb, weil ihm die Menschen erstmal völlig unbefangen begegnen. Es gibt keine Berührungsängste, keine Unsicherheiten. Wie man sich Jim gegenüber verhält, wird nicht „zerdacht“. Das ist schön zu erleben. Es gibt dem Alltag eine Leichtigkeit. Und uns das Gefühl, nicht immer „anders“ zu sein. Es wird nicht rumgedruckst oder komisch geschaut. Die Tatsache, dass man nicht angestarrt wird, ist die Schokoladenseite einer unsichtbaren Behinderung. Schlimm, oder?
Wenn die Maske fällt
Das Maskieren wird dann zum Fluch, wenn es für Jim keine Notwendigkeit mehr dafür gibt. Dann entlädt sich alles, was sich den ganzen Tag in ihm angestaut hat, gepaart mit totaler Erschöpfung und einer Portion Verzweiflung. Dieser Zustand ist schwer auszuhalten. Für ihn in erster Linie, aber auch für uns. Konkret bedeutet das, dass die Stunden nach dem Kindergarten sehr, sehr anstrengend und erschöpfend sind. Ein täglicher Ausnahmezustand, an den man sich nie wirklich gewöhnt.
Jim ist seit seinem ersten Geburtstag im Kindergarten. In den ersten Jahren war er der Beobachter in der Gruppe. Er war selten mitten im Spielgeschehen. Eher ein wenig abseits, aber immer interessiert. Er hat die anderen Kinder studiert, ihre Bewegungen und Verhaltensmuster auswendig gelernt und verinnerlicht. All das, was er damals aufgenommen hatte, spult er jetzt ab. Er imitiert, um so in der Gruppe den Tag gut zu überstehen. Es ist wie ein tief internalisierter Überlebensreflex. Für die Gruppendynamik ist das gut, denn Jim läuft einfach so mit und orientiert sich an den anderen. Er wirkt angepasst. Für Jim allerdings ist es ein unglaublicher Kraftakt.
Zuhause nach dem Kindergarten fehlt ihm die Peer Group, an der er sich orientieren kann. Da gibt es nur noch uns Eltern und den Hund. Das Wegfallen dieser Orientierungshilfe und gleichzeitig die Möglichkeit des Freiseins und Loslassens lassen ganz viel von ihm abfallen. Alles, was sich den Tag über angestaut hat, muss dann raus. Und wie es so ist, wenn Schleusen geöffnet werden: es kommt mit wahnsinniger Wucht. Verbales Stimming, extreme Unruhe, Unentschlossenheit, Körperkontakt, viel Weinen, noch mehr Körperkontakt und absolute Verweigerung. Es ist laut, wild und sehr angespannt. Man kann das Emotionsfeuerwerk in ihm förmlich sehen.
Die tägliche Suche
Da steht dieser kleine Junge mit den viel zu großen Gefühlen und weiß nicht, wohin mit ihnen. Und da stehe ich, die versucht, das alles mit ihm auszuhalten. Und es ihm leichter zu machen. Es gibt keine „one size fits all“-Lösung für Jim in diesem Zustand. Jeden Tag suchen wir aufs Neue, was ihm hilft sich zu regulieren. An manchen Tagen ist es die Buchstabensuppe. An anderen das iPad. Oft seine Autosammlung. Und manchmal hilft auch gar nichts außer: aushalten und durchstehen. Zusammen.
Ich frage mich oft, ob es fair ist, Jim dieser rein neurotypischen Regelumgebung so lange auszusetzen. Auf der anderen Seite: wirkliche Inklusion ist utopisch. Oder zumindest noch Lichtjahre entfernt. Die Welt ist die, die sie ist im Moment. Und Jim wird darin zurecht kommen müssen. Also üben wir das mit ihm, so sachte wie es möglich ist. Ihn der Sache nicht auszusetzen, ist nicht machbar für uns. Dieser Zwiespalt ist emotional herausfordernd. Für mich zumindest.
Jims Alltag macht mir Puls
Mir ist dabei immer bewusst, dass wir Jim in dem Punkt unglaublich viel abverlangen. Wenn er abends den Kindergartentag verarbeitet, stelle ich mir manchmal vor, wie es für mich wäre, wenn ich den ganzen Tag in einer für mich nicht natürlichen Umgebung wäre. Die mich überreizt und überfordert. In der ich bestimmte soziale Codes nicht entziffern kann. In der mein Habitus bei anderen Irritation hervorruft. Allein der Gedanke macht mir einen schnelleren Puls. Dabei findet das nur für einen kurzen Moment in meinem Kopf statt. Für Jim ist das sein Alltag.
Also, ein kleiner Reminder in die Runde: Das als Kompliment gemeinte „man bemerkt ja gar nichts“ ist tatsächlich überhaupt kein Kompliment, sondern ableistisch und schwer auszuhalten. Denn nur weil DU es nicht bemerkst, heißt es nicht, dass es nicht vorhanden ist. Es ist ein enormer Kraftakt. Auf lange Sicht kann das nicht spurlos an Betroffenen vorbeigehen. Vielleicht kommen wir irgendwann dahin, dass Maskieren wieder ent-lernt werden kann. Denn wenn ich mir eins wünsche für Jim, dann dass er einfach er selbst sein darf ohne andere imitieren zu müssen, um in irgendein Werte- und Normsystem zu passen.
Was für ein guter Artikel.
Genau so ist es, mit den Kindern die so „angepasst“ den Alltag schaffen….und alle finden, ach so schlimm ist das doch alles nicht. Was wir zu Hause aushalten – sieht keiner.