Was willst du denn?
Seit einigen Tagen treibt mich etwas um. In meinem Kopf herrscht Ambivalenz. Bevor Jim überhaupt auf der Welt war, war eins für mich sonnenklar: ich würde sicher keine „Mutter-Mutter“ sein. Ihr wisst schon, die Sorte mit fertig gepackten Spielplatzrucksäcken, Picknick-Decke, selbstgebastelten Kindergeburtstagseinladungen und dergleichen. Ich war fest entschlossen, auch mit Kind noch ich selbst sein zu können. Absichtlich habe ich mich von Müttercliquen ferngehalten, ich hatte einfach keinen Bock drauf. Peinlich genau habe ich darauf geachtet, dass niemand auf die Idee kommt, mir eine von diesen „total schicken, ganz unauffälligen“ Wickeltaschen zu schenken. Multifunktionsjacken mit möglichst vielen Taschen für die gefundenen Schätze des Kindes? Keine Chance! Zuckerfrei bis drei? Hahaha! Oberstes Gebot war: bloß nicht die Mama raushängen lassen.
Ohne Anschluss
Mit dem Kindergartenstart wurde mir ziemlich schnell klar, dass es zwar auch ohne das Mütternetzwerk geht, aber mit der Gruppe wäre es sicher leichter. Wie aber jetzt den Anschluss finden, gegen den ich mich so lange gewehrt hatte? Ich habe es vorsichtig probiert: hier ein Lächeln, da ein kurzer Tratsch. Trotzdem ist alles immer im Sande verlaufen. Die Mütter-WhatsApp-Gruppe ist total an mir vorbei gegangen. Ihr denkt jetzt sicher: man, sei doch froh! War ich aber nicht, denn ich habe mich nie gegen die Gruppe entschieden, sondern war schlicht und ergreifend nicht eingeladen. Und ich war zu feige, einfach zu fragen.
Ein Neustart
Jims Gruppenwechsel im Kindergarten hat uns eine Art Neustart beschert. Diesmal wollte ich es besser machen. Nicht gleich Elternsprecherin werden, aber zumindest in den Mütterzirkel eintreten. Tatsächlich habe ich es in zwei WhatsApp-Gruppen geschafft. Und bin dort ziemlich stumm. Nicht, weil ich nichts zu sagen hätte, sondern: Je älter Jim wird, desto sichtbarer wird, wie weit Jim sich in der Entwicklung von den anderen Kindern in seiner Gruppe unterscheidet. Die Dinge, die dort besprochen werden, sind so weit weg von unserer Lebensrealität, dass ich mich wie ein Fremdkörper fühle. Ich habe einfach nichts beizutragen. Welches Kind bringt welches Spielzeug zum „Toy Friday“ mit den Kindergarten? Spielt bei uns keine Rolle, denn Jim findet, dass sein Spielzeug überhaupt nirgendwo zu sein hat außer zuhause. Welches Kind hat mit welchem Trick am schnellsten Fahrradfahren gelernt? Irrelevant für uns, denn wir sind noch bei der Helm-Eingewöhnung. Welche Unverträglichkeiten gibt es zwecks Geburtstagskuchen bei der Geburtstagsparty am Wochenende? Ist wurscht, weil… ihr wisst schon. Lustigerweise fühle ich mich auch nie angesprochen, wenn eine Nachricht mit „Liebe Mamis“ beginnt. Ich bin nicht „die Mami“. Was ich lieber hätte? Keine Ahnung. Eins weiß ich aber sicher: Das Ablegen der eigenen Identität und das Annehmen des neuen Mami-Ichs ist mir so fremd.
Nichts ist recht
Das ist das ambivalente Gefühl, das in mir sein Unwesen treibt: ich versuche dazu zu gehören. Und im gleichen Moment möchte ich so weit weg wie möglich von dieser Situation sein. Ich bin das nicht. Gruppen machen mir Stress. „Nur dabei statt mittendrin“ trifft wohl nicht nur auf Jim zu, sondern auch auf mich. Wahrscheinlich denken jetzt viele: „Ja, mein Gott, was will sie denn? Es ist ja nichts recht!“ Genau! Das trifft den Nagel auf den Kopf (RW). Mir ist nichts recht. Darum geht es! Bin ich dabei, fühle ich mich fehl am Platz. Hallo Selbstzweifel. Bin ich nicht dabei, fühle ich mich allein. Hello darkness, my old friend. Der Wunsch nach Zugehörigkeit ist genauso stark wie der Drang nach Individualität und Freiheit. Es ist eine ewige Zerreißprobe, andauernd zwischen den selbst aufgestellten Stühlen zu sitzen (RW).
Da beide Extreme für mich nicht funktionieren, muss ein Mittelweg her. Einer, der Zugehörigkeit in Maßen verspricht und gleichzeitig genug „Platz für mich“ lässt. Ich versuche es also erneut, aber in einem Rahmen, der Spielraum für mich lässt. Wenn die ganze Gruppe nichts für mich ist, dann vielleicht einzelne Personen? Der Versuch besteht also nicht aus Massentreffen auf dem Spielplatz, sondern aus Treffen im kleinsten Kreis. Zuhause. In einem geschützten Rahmen. Das fühlt sich leichter an.
Die grüne Wiese
Dieses Gefühl begleitet mich schon immer. Bis Jim auf die Welt kam, konnte ich es nicht wirklich greifen. Jetzt schreit es mich förmlich an. Und fordert ein, beachtet zu werden. Also beuge ich mich. Es macht wenig Spaß. Um ehrlich zu sein: es ist wahnsinnig anstrengend, sich mit sich selbst auseinander zu setzen und letztlich dann auch Entscheidungen zu treffen. Gerade die Entscheidungen sind schwer, denn sie haben nicht nur Auswirkungen auf mich, sondern auch auf Jim und sein soziales Umfeld. Das muss gut überlegt sein.
Vielleicht ist Ambivalenz aber auch nicht immer schlecht. Sie lässt mich nicht bequem werden, sondern zwingt mich zu ständiger Reflexion. Und zeigt mir immer wieder aufs Neue: das Gras ist wirklich nicht grüner auf der anderen Seite (RW). Heute abend werde ich mich mit Jim auf unsere imaginäre grüne „statt mittendrin“ Wiese setzen und darüber plaudern, dass wir uns auf die nächste „nur dabei“ Gelegenheit auf der anderen grünen Wiese freuen. In Maßen ist beides auszuhalten.
Danke, dass du immer das zu Papier bringst was ich mir denke und fühle. Es beruhigt mich sehr zu wissen Es geht noch jemanden wie mir danke ❤
Man ist nie ganz allein, liebe Bianca. Auch wenn man sich oft so fühlt. ❤️
Ich habe ein Kind mit HKS und ich fühle mich ganz genauso wie du es beschreibst. Danke!
❤️❤️❤️
Hallo Marison. Das mag jetzt ein wenig übergriffig klingen und ich schreibe das hier, nachdem ich deinen (tollen!) Blog erst seit einer Stunde kenne und nur ein paar der Beiträge gelesen habe und dich gar nicht kenne. Aber ich riskiere es jetzt trotzdem mal.
Du schreibst, dass du dich von Gruppen fernhälst, weil sie dir Stress machen, gleichzeitig aber auch nicht allein sein möchtest. Diese Ambivalenz kommt mir sehr bekannt vor. Sie begleitet mich auch schon mein ganzes Leben. Auch der Drang nach Individualität und Freiheit spricht mir aus der Seele.
Ich habe selbst eine Autismus-Spektrum-Störung (vormals Asperger-Syndrom). Wenn ich mich mit meinem Vater vergleiche, stelle ich fest, dass wir eine sehr ähnliche, andersartige Denkweise besitzen. Mein Vater war auch immer sehr eigenbrötlerisch, konnte mit Gruppenaktivitäten wenig anfangen und hatte nie Freunde. Er hat sich lieber mit seinen eigenen Hobbies beschäftigt. Ich erkenne mich in ihm in vielen Punkten wieder.
Er hatte nie eine Diagnose und ich würde bei ihm auch nicht unbedingt Autismus vermuten, aber es geht schon in Richtung „autistische Züge“. Ich habe schon gelesen, dass du diesen Begriff nicht akzeptierst, aber meiner Erfahrung nach hat er durchaus seine Berechtigung. (Ich würde auch genau anders herum argumentieren und es inzwischen ja nur noch „Autismus-Spektrum-Störung“ heißt, damit auch leichte Fälle bereits als autistisch eingestuft werden können.)
Man geht ja davon aus, dass Autismus zum Teil erblich bedingt ist. Worauf ich hinaus will: Kannst du dir vorstellen, dass die Grundlagen für Jim’s Behinderung durch dich vererbt wurden? Ich meine das überhaupt nicht wertend, sondern nur feststellend.
Ich weiß, sowas zu wissen ändert gar nichts. Aber vielleicht hilft es ja auch, eine engere Beziehung zu einander aufzubauen.
Hallo Martin,
danke für Deine Nachricht. Wie schön, dass Du uns gefunden hast. Deine Nachricht ist gar nicht übergriffig. Ehrlich gesagt ist sie ja eine logische Schlussfolgerung. Da bewiesen ist, dass Autismus genetisch bedingt ist, wird der Grund für Jims Autismus bei uns in der Familie liegen. Bei wem genau, das wissen wir nicht. Und es ist für uns auch nicht wirklich wichtig. Zumindest im Moment.
Die Beziehung zwischen uns und Jim ist sehr eng. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass wir uns ganz oft auf unser Bauchgefühl verlassen und nicht allzu viele Experten und Fachleute in unser Leben lassen. Bislang funktioniert das für uns ganz gut.
Ich freue mich, wenn Du uns auch weiterhin folgst.
Liebe Grüße,
Marison