Von der Abhängigkeit

Von der Abhängigkeit

29/10/2022 0 Von Marison

Was unterscheidet mein Leben eigentlich vom Leben meiner Freund*innen mit neurotypischen Kindern? Versteht mich nicht falsch, das hier ist kein Vergleich, wer es schwerer hat. Fakt ist, alle Eltern haben die ein oder andere Herausforderung. This shit is hard. Fakt ist aber auch, dass Eltern behinderter Kinder noch Herausforderungen und Hürden meistern, die andere eben nicht auf der Platte haben. Okay, ich muss mir dafür nicht jedes Wochenende auf einem Fußballplatz die Beine in den Bauch stehen (rw). Immerhin!

Der Unterschied

Ich habe im Vergleich zu anderen immer noch leicht reden. Denn Jims Diagnosen sind nicht so komplex, zumindest nicht auf den ersten Blick. Trotzdem bestimmen sie auf die ein oder andere Weise unseren Alltag. Der größte Unterschied zwischen mir und meinen Freund*innen ist wohl, dass ich immer auf das Wohlwollen und die Großzügigkeit anderer angewiesen und gleichzeitig immer in den Beweispflicht bin. Das macht etwas mit mir. Es strengt sehr an. Die Angst vor dem Kontrollverlust klopft dann ständig an, denn meistens liegen die Dinge und Entscheidungen nicht in meiner Macht. 

Antrags-Marathon

Einen großen Teil macht das Thema „finanzielle Unterstützung“ aus. In Österreich gibt es Familienbeihilfe (das Äquivalent zum deutschen Kindergeld). Das gibt es erstmal ganz unkompliziert, seit 2015 muss nichtmal ein Antrag gestellt werden. Familien, deren Kinder einen Grad der Behinderung von mind. 50 haben, können erhöhte Familienbeihilfe beantragen. Also Antrag mit allen möglichen Befunden losschicken und auf einen Termin zur ärztlichen Begutachtung warten. In unserem Fall wurde die erhöhte Familienbeihilfe befristet, weil: „Besserung ist zu erwarten“. Wissen wir ja schließlich alle, dass sich der Autismus irgendwann verwächst. Die erhöhte Familienbeihilfe wurde bei uns weiter verlängert, aber nicht entfristet. Ich werde also in einiger Zeit wieder mit Jim dort vorstellig werden und beweisen müssen, dass Jim noch immer Autist ist. Es fühlt sich an wie ein Marathon, bei dem man doch nie wirklich ins Ziel einläuft.

Jim Kletternetz„Zu gut“ = keine Hilfe

Dann gibt es den Pflegegrad, und mit diesem einhergehend Pflegegeld. Wir haben den Pflegegrad nun ein weiteres Mal beantragt, nachdem er das erste Mal abgelehnt wurde. Denn die Ärztin fand Jim in den 15 Minuten, die sie ihn gesehen hat, „zu gut“. Mein Versuch, den Pflegeaufwand noch zwischen Tür und Angel aufzuzeigen, scheiterte kläglich. Zum Vergleich habe ich mal einen Online-Fragebogen für die Beantragung des Pflegegrads in Deutschland ausgefüllt. Da kam PG4 raus. In Österreich hingegen: niente! Und ja, ich weiß, so ein Online-Pflegerechner ersetzt keine offizielle Begutachtung. Also gehen wir den ganzen Kram wieder von vorne an, in der Hoffnung – ich trau mich das gar nicht zu sagen – dass Jim am Tag der Begutachtung mal keinen besonders kooperativen Tag hat.

Rennen und warten

Und nicht zu vergessen: damit die Krankenkasse uns ein bißchen was zurück erstattet von den privatfinanzierten Logopädie- und Ergotherapie-Einheiten, müssen die Überweisungen vorher erstmal bei der Krankenkasse selbst chefärztlich bewilligt werden. Weil: es reicht nicht, dass ein Kinderfacharzt findet, dass das notwendig ist. Da muss irgendjemand auch nochmal seinen Otto draufsetzen. Was für ein unnötiger Aufwand!

Jetzt darf ich eigentlich nicht klagen, denn bis auf die Pflegegrad-Geschichte haben wir bei all den Anträgen nie Probleme gehabt. Nur unendliche Rennerei und Warterei. Die Schippe mehr Aufgaben auf den Mental Load. Wie viel Papier allein ich für Kopien von Befunden verbraucht habe, es ist absurd. Die Zeit für Recherche und das Ausfüllen und Vorbereiten von irgendwelchen Anträgen bekommt man nie wieder zurück. Und wie gesagt: unser Fall ist nicht sehr komplex im Vergleich zu anderen. Ich kann nur erahnen, wie viel Zeit, Nerven und Papier da aufgewendet werden müssen. 

Austoben

Der andere Punkt hat eher mit meinen Emotionen zu tun. So wie andere Eltern die Fußballtasche für das Turnier am Wochenende packen und die Stutzen nicht vergessen dürfen, denke ich eben an Schokokekse, Wechselkleidung und Ladekabel, den Routine-Plan immer im Kopf und alle Eventualitäten vorausberechnet. Apropos Fußball, gutes Stichwort. Sport. Ich suche ein Hobby für Jim. Etwas, was ihn abseits von Kindergarten und Therapien auslastet und ihm Spaß macht. Mannschaftssport fällt aus. Haben wir probiert, war ein fulminanter Fehlgriff, von dem vor allem ich mich noch immer erhole. Ich habe noch zig andere Ideen, die ich gern ausprobieren möchte mit Jim, aber ich drücke mich davor. Weil – und jetzt kommen wir zum springenden Punkt – wir immer auf das Wohlwollen und die Großzügigkeit anderer angewiesen sind. 

Das Angebot des Behindertensportverbands ist für Kinder wie Jim nicht wirklich geeignet. Grundsätzlich haben sie ein tolles Angebot, sie sprechen aber eher Kinder mit anderen Behinderungen als Autismus an. Das kommt also für Jim zur Zeit nicht in Frage. Die Alternative ist, dass Jim an ganz regulären Sportkursen teilnimmt. Das geht allerdings nur, wenn die Trainer*innen das auch leisten können, denn meistens sind Eltern dort während der Trainingszeiten zur Unterstützung nicht erwünscht. Für mich bedeutet das, dass ich vorher mit ihnen abkläre, ob sie einem Probetraining zustimmen und ob sie sich überhaupt vorstellen können, dass Jim dem Training folgen kann. Vor einiger Zeit hatten wir mal ein nicht so schönes Erlebnis nach einem Probetraining, das hat sich eingebrannt („ihm fehlt die Sozialkompetenz, er ist nicht förderlich für die Gruppe!“). Ich kann es den Trainer*innen auch nicht verübeln. Sie sind schlicht nicht ausgebildet dafür. Die Suche nach einem geeigneten Sport für Jim ist also auch immer abhängig von den Kapazitäten und dem Wohlwollen der Trainer*innen.

Vom Wohlwollen

Ich bin abhängig vom Wohlwollen meines Arbeitgebers, der mir zugesteht, nicht jeden Tag im Büro zu erscheinen. Und ich bin froh, dass mein Job das zulässt. Nicht jede*r kann überhaupt Lohnarbeit im Home Office nachgehen. Wir sind abhängig von der Großzügigkeit unseres (unfassbar tollen) Regelkindergartens, der bereit war, Jim trotz seiner Herausforderungen zu behalten und wirklich großartig zu inkludieren. Viele machen Jim Herbstgerade mit Kindergärten ganz andere Erfahrungen. Ich bin abhängig von der Großzügigkeit und dem Verständnis meiner Freund*innen, wenn ich ihren Einladungen zu besonderen Anlässen nicht folgen kann, weil ein Wochenende zu verreisen bedeutet, dass ich die Nachwirkungen davon bei Jim die nächsten Monate begleite. 

Ich könnte noch Seiten mit weiteren Beispielen füllen, aber ich glaube, ich habe meinen Punkt rübergebracht. Dieser Text soll nicht belehren oder die Herausforderungen von Eltern neurotypischer Kinder kleinmachen. Er soll sensibilisieren. Abschließend kann ich sagen: ich möchte nicht tauschen. Alles ist gut so wie es ist. Und trotzdem beneide ich meine Freund*innen oft dafür, dass sie sich im Bezug auf ihre Kinder andere Gedanken machen (können) als ich. Das ist das Prinzip der Gleichzeitigkeit.