
Vom Mitfühlen
Manche Geschichten sind so schön, dass man sie immer wieder erzählen kann. Wenn der April schon das Winterwetter wieder bringt, dann soll euch wenigstens warm ums Herz werden. Es braucht sowieso viel mehr schöne Geschichten! Wer in den letzten Tagen meine Instagram- oder Facebook-Stories verfolgt hat, wird die nachfolgende Situation wiedererkennen. Ich muss ständig an diesen Moment denken, deshalb erzähle ich es hier einfach nochmal. Legt am besten schon mal die Taschentücher parat.
Vor ein paar Tagen…
… holte ich Jim vom Kindergarten ab. Wie immer wollte er auf direktem Weg zum Supermarkt. Einkaufen ist unsere Tradition beim Abholen geworden. Die einen gehen zum Spielplatz und wir gehen zum Chipsregal. Es war ein ziemlich kühler Tag, und als wir so vor uns hin schlenderten, bemerkten wir auf der anderen Straßenseite einen Mann mit seinem Sohn, etwas älter als Jim. Ich fragte mich, ob der Junge wohl Autist sei, denn er gab immer wieder die gleichen schrillen Laute von sich. Ich ging davon aus, dass das Stimming sei, also selbststimulierendes Verhalten. Viele Autisten machen das, um sich zu beruhigen. Der Junge wollte nicht wirklich vorwärts gehen und der Vater hatte Mühe, seinen Sohn zum Weitergehen zu bewegen. Die Situation war in keiner Weise grob oder ungut, aber es war dem Vater anzusehen, dass ihn das ganze stresste.
Jim, mein Korrektiv
Jim blieb stehen, schaute immer wieder rüber und stellte fest „ooh, traurig!“ Und dann habe ich mich selbst dabei erwischt, wie ich zu Jim sagte: „komm, wir gehen weiter, schau da nicht so hin.“ Hätte ich noch hinzugefügt, dass sich das nicht gehört, hätte ich in einem Satz wirklich alles gesagt, was mich bei anderen immer den Zeigefinger heben lässt. Da kann ich mich dann auf Jim verlassen, er ist mein Korrektiv. Er blieb nämlich beharrlich stehen, machte ein trauriges Gesicht und beobachtete, was da passierte. Der Junge auf der anderen Straßenseite legte sich irgendwann einfach auf den Gehsteig. Und der Vater gab irgendwie auf, ließ die Schultern hängen und stand einfach bei seinem Sohn. Beinahe hätte ich ihm zugerufen „hey, tief durchatmen, ich kenn das.“
Vom Giftdrachen und dem heißen Brei
Und dann – es kam wie es kommen musste: eine ältere Dame steuerte mich stechendem Schritt auf die beiden zu und ließ eine Salve an Beschimpfungen auf den Vater ab. Das volle Programm, die ganze Litanei: wie können Sie das zulassen? Was sind Sie denn für ein Vater? Es ist kalt! Das Kind kann doch nicht auf dem Boden liegen. Und dreckig ist es auch noch. Rabenvater. Und noch eine ganze Menge mehr, was ich wirklich hier nicht schreiben möchte. Ich mische mich selten in solche Dinge ein, aber genug ist genug! Also hab ich Jim gepackt, wir sind rüber gegangen und ich habe den Giftdrachen höflich und nachdrücklich gebeten, sich einfach um ihren eigenen Mist zu kümmern und den doch offensichtlich eh schon gestressten Vater um Himmels Willen in Frieden zu lassen. Manchmal tut sowas richtig gut. Zeternd und schimpfend zog sie ab. Der Vater nickte mir zu, dankbar, dass er sich nicht auch noch um eine hysterische Passantin kümmern musste.
Der Junge lag noch immer auf dem Boden und dem Vater war die Situation sichtlich unangenehm. Und als ich merkte, dass er nicht so recht wusste, wie er das nun angehen sollte, fragte ich ihn, ob er Hilfe benötigte. „Nein, danke, geht schon, er ist halt manchmal so.“ Dann folgte ein Versuch, mir zu erklären, dass der Junge Autist sei, ohne dass er das Wort jemals in den Mund genommen hätte. Und ich versuchte ihm zu erklären, dass er mir das doch gar nicht erklären müsste. So standen wir also da und redeten um den heißen Brei. Typisch Erwachsene, echt!
Geschapp!
Der einzige, der wußte, was zu tun war, war Jim. Der ließ nämlich meine Hand los, als er merkte, dass die Erwachsenen hier nicht vorwärts kamen, setzte sich einfach zu dem Jungen auf den Boden und legte ihm die Hand auf die Schulter. So saßen und lagen die beiden Jungs also mitten auf dem Gehsteig im eisigen Wind. Und wir Großen schauten reichlich verdutzt. Ein paar Minuten ging das so, dann stand der Junge auf und lief weiter. Der Vater hinterher. Jim stand auf, klopfte sich die Hose ab, sagte, als ob nichts gewesen wäre „so, geschapp, ssuum BILLA-Anbot!“ (So, geschafft, zum BILLA-Angebot!) und stampfte los. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Irritation schaute ich ihm hinterher und musste mich dann doch sputen, ihn vor der Kreuzung noch einzuholen.
Moral 1: Es ist nicht immer so, wie es scheint
Ich erzähle das aber nicht nur, weil es rührend ist. Jetzt kommt noch die Moral der Geschichte um die Ecke. Und das gleich zweimal! Zuerst: es ist nicht immer so, wie es scheint. Ein Kind, das sich nicht so verhält, wie man es gern möchte, ist nicht zwingend schlecht erzogen oder ungehörig. Ich weiß nicht, was der Auslöser bei dem Jungen war, aber es war eindeutig, dass er mit etwas überfordert war. Anstatt das zu belächeln oder zu be- bzw. verurteilen, kann man auch einfach festhalten: wie großartig ist es, dass er einen Weg der Selbstregulation gefunden hat (Stimming und auf den Boden legen), auch wenn das für neurotypische Menschen erstmal ungewöhnlich erscheint. Und wie toll, dass der Vater das akzeptiert und ausgehalten hat, anstatt auf seinen Sohn einzureden oder ihn gar mitzuschleifen, was die Situation sicher nur verschärft hätte. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen: man möchte sich gern sehr schnell vom Präsentierteller entfernen, wenn das Kind Verhaltensweisen zeigt, auf die andere mit dem Finger zeigen. Nicht weil uns unsere Kinder unangenehm sind, sondern weil sich andere Erwachsene oft so unnötig zu Wort melden oder uns das Gefühl geben, unseren „Erziehungsauftrag“ nicht ordnungsgemäß zu erfüllen. Das Kind, das auf dem Gehsteig liegt, ist ein kleiner Ausschnitt, ein Moment. Nicht Zeugnis einer unerfüllten Elternpflicht. Cut us some slack!
Moral 2: Autisten haben durchaus Empathie
Was die Geschichte aber auch zeigt: die Pauschalaussage, Autisten wären empathielos und hätten mit Gefühlen nichts am Hut, ist einfach nicht wahr. Sicher, es gibt Autisten, die Schwierigkeiten haben, Gefühle zu erkennen und zu interpretieren. Aber einen Mangel an Empathie kann man nicht per se dem Autismus zuschreiben. Im Umkehrschluss würde das nämlich bedeuten, dass alle neurotypischen Menschen echte Empathiebolzen wären. Ich will ja nicht die Gefühlsparty crashen, aber eins weiß ich sicher: es gibt jede Menge neurotypischer Menschen, die dringend mal einen Empathiekurs machen sollten. Der Giftdrachen zum Beispiel könnte sich schonmal anmelden. Während wir Erwachsenen damit beschäftig waren, die Situation zu analysieren und unsere innere Checkliste durchzugehen, hat Jim einfach gehandelt, ganz intuitiv. Und hat dabei mehr Empathie bewiesen als wir alle zusammen, die da standen. Die beiden Jungs hatten eine andere Ebene der Kommunikation miteinander. Wir Eltern hatten dazu keinen Zugang, das haben die beiden miteinander ausgemacht.
Was ich mich nun frage
Die Geschichte hat für mich auch eine weitere Frage aufgeworfen: können wir Eltern, Therapeut*innen, Pädagog*innen und alle anderen neurotypischen Menschen, die in Jims Leben eine Rolle spielen, ihn überhaupt so unterstützen, wie es für ihn gut und richtig ist? Wir können uns ja nie in ihn hineinversetzen, sondern immer nur Vermutungen anstellen. Wir bringen ihm bei, sich in einer überwiegend neurotypischen Welt zu bewegen, möglichst wenig aufzufallen. Aber ist das gut? Und was macht das mit ihm? Gibt es autistische Therapeut*innen, die hier einen guten Ansatz haben, wie autistische Kinder ihr Leben bestreiten und dabei trotzdem sie selbst sein können? Denn wer könnte Jim besser unterstützen als jemand, der/die diese Erfahrung selber gemacht hat? Aber das ist eine andere Geschichte, die erst noch reifen muss. Vielleicht erzähle ich sie irgendwann. Dann, wenn aus der Idee etwas entstanden ist.
Wirklich toller und erstaunlicher Beitrag wie Jim die Situation „gelöst“ hat 🙂
❤️
Es ist bemerkenswert, wie Kinder reagieren oder einfach agieren? Das haben die meisten Erwachsenen schon fast verlernt. Wir neigen eher dazu Situationen zu zerreden, zu bewerten, zu analysieren. Einfach mal intuitiv handeln und nicht darüber nachzudenken,ob es jetzt richtig oder falsch ist. Ich liebe unsere Kinder dafür!
Danke Marison, Dein Beitrag hat mich total abgeholt und natürlich hatte ich einen klitzekleinen Minikloß im Hals 😉
❤️
Liebe Marison, ich lese deine Einträge über Jim so gern und möchte ihn wirklich gern mal kennenlernen. Kannst du ungefähr beschreiben wie das klingt, das stimming? Ich weiß, vermutlich nicht ganz leicht mit Worten, aber Dir gelingt da ja ziemlich viel;)
Danke !
Liebe Silke,
überhaupt sollten wir uns mal wieder sehen, das wäre schön.
Stimming kann man schlecht beschreiben, weil es ganz individuell ist. Die einen drehen sich im Kreis oder flattern mit den Händen. Andere klopfen sich auf die Beine oder machen Geräusche, wie der Junge im Beitrag. Jim zum Beispiel sagt dann wahllos alle Wörter auf, die er kennt. Oder er zählt von 1 bis 100. Es gibt also keine allgemeingültige Beschreibung. Man kann es ganz gut daran erkennen, dass es eben repetitiv ist. Der Junge hat kein Lied gesungen, sondern über einen längeren Zeitraum immer wieder denselben Ton von sich gegeben. Stimming kommt bei den meisten Autist*innen vor, aber auch nicht-autistische Menschen tun das. Stimming allein ist also kein ausschließliches Autismus-Merkmal. Ich bin keine Stimming-Expertin, das ist nur mein kläglicher Versuch einer Erklärung. Macht es das klarer?
Alles Liebe und bis hoffentlich bald einmal wieder,
Marison
Bemerkenswert wie sensibel und feinfühlig unsere Autisten reagieren. Wenn Ben in solche Situationen kommt, fäng er sofort mit Stimming ( er klopft sich leider sehr stark auf sein Kinn) an. Ihn beruhigen oder eingreifen, geht ganz schnell in die falsche Richtung. Abwarten und aufpassen, dass er sich nicht zu fest schlägt.