Vom Angstgegner zum Safe Place
Es ist anderthalb Jahre her, dass ich vom Angstgegner Spielplatz geschrieben habe. Es gab damals wenig Orte, an denen ich mich noch weniger gern aufgehalten habe. Schlimmer war nur noch Freibad, Flugzeug oder Zahnarzt. Ich denke oft daran zurück, wie unentspannt, nervös und skeptisch ich dort war. Irgendwie fehl am Platz. Wirklich gut erklären kann ich das Gefühl nicht.
In der Zwischenzeit sind wir umgezogen. Gleiche Stadt, anderer Bezirk. Und damit auch anderer Spielplatz. Plötzlich ist aus meinem Angstgegner ein Ort geworden, an den ich ganz gern gehe. Das hat unterschiedliche Gründe: der Weg dorthin, die anderen Menschen, Jims Entwicklung, mein Verhalten. Ich wünschte, ich könnte meinem damaligen Ich sagen, dass alles besser wird. Das geht jetzt nicht mehr. Aber vielleicht kann ich es hier jemandem sagen, der*die sich gerade in der Angstgegner-Phase befindet: es kann besser werden. Man muss es allerdings auch ein wenig wollen.
Am Anfang war der Weg das Ziel
Ich erinnere mich gut, dass mir das Adrenalin schon durch die Schädeldecke schoss, bevor wir überhaupt aus dem Haus gegangen sind. Weil ich wusste: der Weg zum Spielplatz wird entweder eine Gedulds- und Charakterprobe für mich oder ein Workout für den Tragearm. Ich habe unendlich viel Zeit damit verbracht, Jim immer und immer wieder zu erklären, dass der Fahrradweg, der bergab führt und gern als Rennstrecke für eScooter, Fahrräder und sonstiges genutzt wird, tatsächlich gefährlich ist und er sich nicht mitten drauf setzen kann. Oder dass die Parkhaus Ein- und Ausfahrt mit Rolltor nicht dafür gedacht ist, dass er es sich dort gemütlich macht. An dieser Stelle nochmal einen großen Dank an die Autofahrer*innen, die geduldig und verständnisvoll nickend gewartet haben, bis ich Jim aus seiner Schneidersitz-Pose mitten auf der Ausfahrt gewuchtet hatte.
Gemütlicher Spazierweg
Der Weg zum neuen Spielplatz ist leichter. Es geht nicht mehr durch die Stadt, nicht mehr durch 30er-Zonen, durch die ja doch jede*r mit 50 brettert. Kein gehetzter Business-Typ auf seinem eScooter rast an uns vorbei, nachdem er uns schon aus 150 Metern Entfernung ein „ey, weg da!“ entgegengebrüllt hat – die Laptoptasche am Lenker, den AirPod mit dem total wichtigen Call im Ohr, lässige Sneakers zur Hochwasser-Anzughose und total witzigen (gähn!) Happy Socks. Jetzt überqueren wir genau eine Straße und ab da ist Park. Da fahren zwar auch Fahrräder und eScooter, aber alles in allem gemächlicher. Es scheint, als ob hier alle Zeit hätten. Kein Stress. Außer einem Jogger, der für irgendwas sehr intensiv trainiert und sich unglaublich echauffieren muss, wenn jemand seine Ideallauflinie stört. In diesem Park kann Jim mit seinem Fahrrad also gemütlich vor sich hinzuckeln. Oder schlendern. Oder sich einfach hinsetzen und in die Gegend schauen.
Hauptsache spielen!
Auf dem neuen Spielplatz hat Jim keine Vorgeschichte. Dort sind nicht seine Freund*innen aus dem Kindergarten. Nicht falsch verstehen, die anderen Kinder im Jims Kindergarten-Gruppe sind toll. Aber auf dem Spielplatz läuft er bei ihnen eher nebenher als mit. Auf dem neuen Spielplatz sind viele Kinder, die wenig Deutsch sprechen. Jims Sprachbarriere spielt hier also keine große Rolle. Da wird einfach miteinander gespielt. Getobt. Geklettert. Gebuddelt. Ohne dass vorher komplizierte Regeln ausdiskutiert werden müssen. Und weil es eben nicht die Kinder aus seiner Kindergarten-Gruppe sind, gibt es auch keine Hierarchie.
Rindenmulch-Picknick
Und die Eltern? Ich formulier’s mal vorsichtig: die Snack-Boxen der Kinder sind selten mit Kohlrabi-Schnitzen bestückt. Irgendein Kind hat sicher eine Chipstüte in der Hand und verteilt großzügig. Ein anderes bringt Gummibärchen zur Sandkiste (knirscht so gut zwischen den Zähnen!), Jim verteilt eifrig Schokokekse. Und manchmal fragt mich ein Kind, ob es ein Stück Apfel haben kann, den habe ich für’s gute Gewissen immer dabei. Wer jetzt aufzeigen und „aber die Unverträglichkeiten!“ rufen möchte: keine Angst, alle Eltern checken kurz miteinander ab, ob das eh in Ordnung ist. Die Kinder teilen friedlich, bedanken sich sehr höflich beieinander und alle sind ein bißchen stolz, dass sie auch was beitragen konnten zum ungeplanten Gruppen-Picknick im Rindenmulch.
Meine Parkbank und ich
Was tatsächlich nicht zu unterschätzen ist, ist die körperliche Entwicklung. Jim ist mittlerweile so sicher an fast allen Geräten, dass ich mich entspannt auf eine Bank setzen kann. Das war bis vor ein paar Monaten nicht so. Nur an einem Klettergerüst braucht er noch Hilfe, aber da ruft er dann eh. Ich kann also plaudern oder lesen oder auch einfach nur dasitzen und auch mal in die Gegend schauen. Und auch seine soziale Entwicklung hat einen unglaublichen Sprung gemacht. Jim geht auf andere Kinder zu, spricht sie aktiv auf seine Weise an, versucht mit ihnen in Kontakt zu treten. Ich muss nicht vermitteln oder mich einmischen. Die Kids machen das unter sich aus. Und so macht er Wettrennen und -schaukeln mit den anderen. Baut Dämme und Burgen im Sand. Spielt Fußball und Fangen. Nur das Prinzip vom Versteckspiel ist ihm noch nicht begreiflich. So ist er halt immer der, der sucht. Scheint aber weder ihn noch die anderen zu stören. Insofern: alles gut.
Ich sag’s ja: mach dich mal locker!
Ich bin meinem eigenen klugen Ratschlag gefolgt und hab mich mal locker gemacht auf dem Spielplatz. Anstatt jede Eigenheit von Jim sofort zu erklären, erzähle ich nur davon, wenn ich gefragt werde. Das passiert nicht oft, aber hin und wieder kommt es schon vor. Ich bin dort nicht auf der Suche nach Freund*innen, aber ich schließe mich auch selbst nicht mehr aus. Das ist wahrscheinlich die schmerzhafteste Erkenntnis: ich habe mich damals auch selbst zu einer Randgruppe gemacht. Auch weil ich das Gefühl hatte, dass dort eh niemand nachvollziehen kann, wie es mir geht oder wo unsere Herausforderungen liegen. Und weil ich es ehrlich gesagt auch nicht gut ertragen konnte, dass für andere Kinder viele Dinge so vermeintlich natürlich und selbstverständlich kamen, für die Jim – zum Teil heute noch – sehr viel übt. Ich habe mir das Vergleichen abgewöhnt. Und den Neid. So wie es ist, ist es gut.
Nie, nie, niemals hätte ich geglaubt, dass der Spielplatz mal ein sicherer Ort für mich werden könnte. Dass ich Spaß an dem Small Talk dort haben würde. Ich wurde eines besseren belehrt. Aber: ohne eigenes Zutun wird das nix. Man muss es schon auch ein bißchen wollen. Der Sache eine Chance geben. Und einen Teil dazu beitragen. Und wenn es eben Schokokekse sind…