Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

10/02/2021 0 Von Marison

Bei uns steht der klassische Familienalltag Kopf. Vieles ist bei uns einfach… anders. Ich sage nicht, dass es besser oder schlechter ist, es ist schlicht anders als erwartet. Es gibt eine Menge Dinge, die in anderen Familien nicht mal der Rede wert sind, aber für uns sehr viel Planung und Vorbereitung bedeuten, damit es einigermaßen friedlich und entspannt vonstatten geht. Andere Situationen wiederum, bei denen Eltern neurotypischer Kinder schon beim Gedanken daran Schweißausbrüche bekommen, laufen hier so easy ab, dass wir es selbst kaum fassen können. Nicht alles ist typisch für eine Autismusspektrumstörung. Vieles ist sicher auch einfach Charakter.

Hauptsache lang!

Let’s talk Urlaub. Einmal im Jahr zieht es uns ans Meer. Und weil es relativ wenig Meer in Österreich gibt, müssen wir reisen. Das mit dem Reisen ist aber auch so eine Sache, denn das Ziel muss mit dem Auto erreichbar sein. Ich schiebe gern den Hund als Grund vor (eine Flugreise? Kann man doch keinem Hund antun, in einer Box im Laderaum! Nein, kommt gar nicht in Frage!), aber tatsächlich bin ich diejenige, für die es nicht in Frage kommt, in einen fliegenden Metallhaufen zu steigen. Allein der Gedanke daran macht mich panisch. Ollie hat’s auch nicht so mit dem Fliegen. Gut, dann eben kein Urlaub in Thailand. Kontinental-Europa ist auch schön.

Road TripJim findet Autofahren großartig. Es sind die Kurzstrecken, die er blöd findet. Nach einer Viertelstunde wieder aussteigen zu müssen, das passt ihm wirklich gar nicht. Je länger die Autofahrt, desto besser. Das war tatsächlich schon immer so. Und so kommt es, dass wir gut und gerne 1.800 Kilometer bis in die Bretagne kutschieren können. Oder einen Roadtrip von Wien über Italien und Frankreich nach Belgien und zurück. Selbst stundenlange Vollsperrung auf der Autobahn werden auf einer Backe abgesessen. Früher wollte Jim auf seinem Reise-DVD-Player einen Disneyfilm sehen. Das interessiert ihn heute nicht mehr. Am liebsten schaut er aus dem Fenster und erzählt uns von all den LKWs, an denen wir vorbeirauschen. Unser Eltern-Highlight? Jim hat bei langen Autofahrten kein Interesse an Hörspielen oder Kinderliedern, sondern überlässt die Musikauswahl seinem Vater (der das übrigens ziemlich gut macht!). Hoffen wir also, dass man bald wieder unkompliziert reisen kann.

Mamaaaaa, nass! Nein nein nein!

Durch Pfützen springen, im Matsch toben, Hauptsache dreckig werden. Ein Riesenspaß für Kinder? Denkste. Wer eine Nahkampferfahrung sucht, ist herzlich an einem Schlechtwettertag eingeladen, Jim die Matschhose und Regenstiefel für den Spielplatz anzuziehen. Ein Boot Camp ist ein Spaziergang dagegen. Prinzipiell scheut Jim sich nicht vor Jim Regenschlechtem Wetter. Regen findet er tatsächlich ganz spannend. Und es hilft ja nix: auch an grauen, kalten Tagen braucht er mal frische Luft. Sobald ich mich aber der Matschhose auch nur näher, geht hier der Punk ab. Jetzt denken sich viele sicher: na, dann zieh sie ihm halt nicht an, er wird ja merken, dass er ohne sie nass wird. Hm, ja schon, aber so funktioniert sein Hirn nicht. Tatsächlich gehen wir dann meistens ohne Matschhose, weil es weder meine noch seine Nerven mitmachen. Wird aber die Jeans nass, ist es ungefähr genauso schlimm wie Matschhose anziehen. Denn Jim mag Sachen nur, wenn sie intakt sind, also so wie immer. Und die Jeans ist normalerweise ja nicht nass. Gibt es einen Wasserfleck auf der Hose, verfällt Jim in eine Art Schockstarre. Dann steht er kerzengerade, so dass die Hose möglichst nicht seine Beine berührt. Und er ruft nach einem Taschentuch. Clever! Das Taschentuch trocknet schließlich Tränen, warum also nicht auch den Wasserfleck auf der Hose?! Ich habe viele Stunden damit verbracht, nasse Knie mit einem Taschentuch im strömenden Regen trocken zu rubbeln, weil Jim sonst keinen Millimeter zu bewegen gewesen wäre. Natürlich sieht er auch die anderen Kinder in ihren Regenhosen, wie sie durch die Pfützen jagen. Findet er an anderen auch ganz toll, nur für ihn selbst will er das nicht. An Regentagen haben wir also die Wahl zwischen Not und Elend: entweder wir halten den Wutausbruch zuhause aus und ziehen ihm mit vereinten Kräften die Matschhose an oder ich knie im Rindenmulch und trockne nasse Hosen im Regen. Choose your battles.

Des Prinzen neue Kleider

Überhaupt ist anziehen hier ein seltsames Thema. Ich kann nicht behaupten, dass es kompliziert ist, Jim anzuziehen. Aber wehe, es ist ein neues Kleidungsstück. Und davon gibt es doch immer wieder eine ganze Menge. Ollie ist Mr. Fashion in der Familie. Entsprechend gut ist Jims Kleiderschrank sortiert. Ist so. Kann man albern finden, uns macht’s aber Freude. Jim ist außerdem mächtig eitel und betrachtet sich sehr genau im Spiegel. Im Sommer ist ihm wichtig, dass sein Baseball Cap farblich zum Rest des Outfits passt. Das hat er sicher nicht von mir, bei Klamotten bin ich farbenblind! Am liebsten würde Jim jeden Tag dieselbe Jeans mit demselben Kapuzenpulli anziehen. Aber irgendwann sind auch die tollsten Jeans mal zu klein oder einfach kaputt. Also muss eine neue her. Ich kaufe schon immer das gleiche Modell in der Hoffnung, dass er es nicht bemerkt. Mache heimlich alle Schilder ab, damit er gar nicht sieht, dass es eine neue Hose ist. Und er merkt es trotzdem. Also müssen wir Trick Siebzehn anwenden: ich ziehe Jim den Pulli über den Kopf, sodass er selbst die Arme reinfriemeln muss. Und währenddessen lasse ich ihn schon in die neue Jeans schlupfen. Das ist nämlich das Interessante daran: wenn er sie mal angezogen hat, ist es kein Problem mehr. Dann nimmt er sie zur Kenntnis, murrt kurz und fügt sich seinem Hosen-Schicksal. Bei Pullis, T-Shirts und Schuhen ist das komplizierter, denn das schaffen wir nicht, ohne dass er es sieht. Selbst das coolste Lightning McQueen Shirt wehrt er ab. Eins ist allerdings sicher: wenn wir es irgendwann geschafft haben, ihm das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, wird er es für die Zukunft akzeptieren. Mir ist klar, dass andere Kinder auch Lieblingsanziehsachen haben, das macht Jim nicht speziell. Es ist bei ihm die Sensation des Neuen, die ihn unrund und nervös macht.

Aaaaaaaaaah!

Vor einiger Zeit saß ich mit anderen Eltern zusammen, als das Gespräch auf die Themen „Nägel schneiden“ und „Zähne putzen“ kam. Es wurden die besten Tipps ausgetauscht, vor allem über das Kürzen der Fingernägel. Ich kann berichten: die meisten tun das mit einer Stirnlampe, während das Kind im Tiefschlaf ist. Zähne putzen scheint hingegen ein nahezu unlösbares Problem zu sein. Bei uns? Entspannt. Nägel schneiden geht hier ohne Tränen. Abends, wenn Jim seine Gute-Nacht-Milch trinkt. Wenn wir fertig sind, lobt Jim das Ergebnis: gut gemacht, Mama. Solange die Kinderzahnpasta funktioniert, ist auch Zähne putzen easy. Danach muss schließlich nicht der Mund ausgespült werden. Was bei uns gut geholfen hat beim Thema Hygiene ist zählen: wir zählen die 5 Schritte nach der Milch an den Fingern ab: eins, Zähne putzen. Zwei, Gesicht waschen. Drei, Hände waschen. Vier, Esel (das ist der Kinder-Lippenpflegestift, auf dem ein Esel abgebildet ist). Fünf, ATZEBETT (ab ins Bett). Solange wir diese Reihenfolge einhalten, dauert der ganze Spaß keine 5 Minuten. Er kann sich auf diesen Ablauf verlassen, so ist er nicht überfordert und die Stimmung bleibt gut. 

Tetris im Supermarkt

„Maamaaaaaa, bitteeeeee, ein Überraschungsei!!!“ hallt es durch den Supermarkt, während Jim mit mir durch die Gänge geht, den Kindereinkaufswagen fest im Griff. Es ist nicht Jim, Jim kauft einder da nach „Spiel, Spaß, Spannung, Schokolade“ ruft. Interessiert ihn gar nicht. Viel wichtiger ist für ihn, dass wir unsere Liste abarbeiten und möglichst clever die Mini-Füllfläche des Zwergenwagens füllen. Shopping-Tetris sozusagen. Einkaufen ist Jims großes Hobby. Ich darf also tagsüber nicht zum Supermarkt, denn Jim möchte gern mit mir nach dem Kindergarten dort hin. Liegt auch daran, dass er dort immer ein Laugencroissant bekommt. Bei ihm heißt das allerdings „Stück“. Warum? Weil ich ihn immer frage, ob er noch ein kleines Stück haben möchte, wenn’s an der Kasse mal wieder länger dauert. Wir laufen also gemeinsam die Regale ab, füllen unseren Wagen und stellen uns in der Schlange zum Bezahlen an. Und da steht er geduldig, legt mit mir die Waren auf das Band, grüßt alle freundlich und bringt dann den Wagen zurück, während ich einpacke und bezahle. Null Stress. Kein Geschrei. Keine Kämpfe am Eltern-Folter-Regal. Ganz easy. So haben wir das geübt. Und so ist es für Jim Routine geworden. Ein quengelndes Kind im Supermarkt? Kenne ich nicht.

Und was zeigt das jetzt alles? Dass wir es nicht schwerer oder leichter haben als andere Eltern. Dass jede/r ein Päckchen zu tragen hat. Bei uns muss vielleicht mehr Routine herrschen, hier passiert wenig spontan, dafür können wir uns aber auch total darauf verlassen, es ist vorhersehbar. In vieles müssen wir uns erst einfuchsen, genau beobachten, Geduld haben. Wenn man das akzeptiert, kommt man wunderbar zurecht.