Toxic Positivity oder einfach mein Leben?

Toxic Positivity oder einfach mein Leben?

10/08/2022 6 Von Marison

Vor einiger Zeit wurde mir toxic positivity vorgeworfen. Ich würde das alles nicht ernst genug nehmen, nicht genug mit der Bubble um Unterstützung und Sichtbarkeit kämpfen. Meine Erzählungen von Autismus seien „weichgespült“. Das wahre Leben sei doch anders. Meine Geschichten nicht repräsentativ. Oder wenn es wirklich so wäre bei uns wie ich erzähle, dann hätten wir wohl großes Glück gehabt, es sei ja gar nicht „so schlimm“. Bestimmt sei Jim eben high functional, nur ein bißchen Autist. Ugh! (Kurze Randnotiz: können diese Begrifflichkeiten wie high und low functioning bitte endlich verschwinden?)

Viel Spaß, weniger Frust

Jim liegtBoah, gähn. Ich kann es nicht mehr hören. Was ich erzähle und in welcher Form, ist meine Entscheidung. Und ich habe mich dazu entschieden, Geschichten zu erzählen, die Jim vielleicht eines Tages auch mal gerne lesen möchte. In den Geschichten möchte ich zeigen, dass ich stolz auf ihn bin. Dass unser Leben nicht nur aus Last und Kampf besteht, sondern auch (und vor allem) aus unendlich vielen tollen, lustigen und spannenden Momenten. Nicht nur aus Frust.

Ihr könnt mir glauben, hier geht auch oft genug die Post ab (rw). Ich bin auch oft müde, erschöpft, abgekämpft. Ich bin nicht nur Mutter eines Fünfjährigen. Ich bin angestellt und arbeite außerdem nebenbei freiberuflich. Hier gibt es einen Hund, einen Haushalt und eine Beziehung. Es gibt Therapien, Anträge und Termine. Mein Leben ist voll. Den Blog und alles drum herum (Social Media) mache ich in meiner Freizeit. Das ist meine Freizeit. Und die möchte ich mit schönen Dingen verbringen. Nicht damit, mir immer wieder zu erzählen, wie anstrengend mein Leben ist.

Unpopular Opinion #sorrynotsorry

Das ist sicher eine unpopuläre Meinung, aber ich möchte versuchen, sie darzulegen. Mein Zugang ist folgender: Eltern autistischer Kinder ärgern sich, dass die Berichterstattung in erster Linie defizitär ist. Also dass andauernd erzählt wird, was die Kinder nicht können bzw. nicht können werden. Und gleichzeitig erklären sie andauernd, was für sie nicht möglich ist – ohne dabei mal ganz konkret zu sagen, was es denn bräuchte und auch realistisch möglich wäre! Ich lese ausführliche Berichte über mangelnde Unterstützung, fehlende Aufklärung, ein nichtfunktionierendes System, abgekämpfte Eltern, totale Erschöpfung. Aber kommt jemand um die Ecke und äußert ein „ich könnte das ja nicht!“, schreien alle auf und finden es schlimm, dass es in der heutigen Zeit immer noch Menschen gibt, die eine Behinderung als bedauernswert erachten. Nun… ich fürchte, die andauernden Beschreibungen eines fast unmenschlich anmutenden Alltags haben unter Umständen auch dafür gesorgt, dass dieses Bild entstanden ist. Ich behaupte nicht, dass es das alles nicht gibt. Natürlich ist die Versorgung mangelhaft, das System nicht gut gerüstet, Eltern erschöpft. Ich frage mich nur, ob es WIRKLICH etwas ändern wird, wenn das andauernd angeprangert wird.

Social Media als Ventil

„Aber Marison, was ist denn das für ein Argument? Das klingt ja nach „selber schuld“? Ziemlich uncool von dir.“ Ja, du kannst das uncool finden. Und vielleicht können wir das auch nochmal diskutieren. Aber von einer Sache bin ich überzeugt: man darf natürlich Social Media als ein Ventil nutzen und Dampf ablassen (rw). Mache ich ja auch, ich nehme mich da nicht aus. Wer aber immer nur Dampf ablässt und nie auch selbst einen konkreten Lösungsvorschlag anbietet, riskiert, dass den anderen irgendwann mal die Ohren bluten (rw) und die (ja berechtigte) Erschöpfung mit einem „oh nee, nicht die schon wieder“ abgetan wird. Dem Bild der völlig ausgebrannten Eltern stelle ich nur ein anderes Bild mit meinen Erzählungen gegenüber. Meine Geschichten und Gefühle sind genauso valide wie eure.

Was stört euch denn?

So wie ich für mich entscheide, in welcher Form ich erzähle und wieviel von unserem Leben ich preisgebe, so entscheidet ihr das natürlich auch für euch. Gut so. Und wenn ihr in erster Linie von den Herausforderungen erzählen möchtet – bitte gerne, you do you! Aber wenn das, was ich erzähle, nicht als repräsentativ angesehen oder als toxic positivity bezeichnet wird, dann muss ich euch fragen, was euch an meinem Zugang stört? Für mich funktioniert das Prinzip „es ist was es ist“ ganz gut. Ich habe beschlossen, das Sein meines Sohnes nicht andauernd zu pathologisieren. Und habe festgestellt, dass wir gut mit dem Grundsatz „wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“ fahren. Klappt auch nicht immer, aber meistens.

Jim klettertIch spreche offen und wohlwollend mit allen Beteiligten über Jim. In der Regel gehe ich nicht davon aus, dass mir jemand etwas schuldig ist oder mir grundsätzlich etwas zusteht. Das bedeutet auch, dass ich mich über die Maßen verantwortlich fühle. Als mich letztens jemand fragte, ob ich auch mal Zeit für mich hätte, war meine Antwort: „nein. Aber ich nehme sie mir auch nicht wirklich, obwohl ich müsste und sicher auch könnte.“ Ich weiß, dass eines Tages die Zeit kommt, in der ich auch wieder für mich selbst eine größere Rolle spiele(n kann). Bis dahin finde ich meine Leben einfach auch weiterhin gut und nicht bedauernswert. Für die einen ist es also toxic positivity, für mich ein funktionierender Alltag. Für die anderen ist es nicht autismus-repräsentativ genug oder weichgespült, für mich ist es mein Leben. Nennt es, wie ihr wollt. Judge me!