Textsicher

Textsicher

27/11/2020 6 Von Marison

Wenn ich sage, dass Jim nicht spricht, dann stimmt das eigentlich nicht. Jim quasselt den ganzen Tag, bei uns ist von morgens bis abends Geräusch. Das war lange nicht so. Bis Jim fast zwei Jahre alt war, hat er gebrabbelt, wie es einjährige Kinder in der Regel tun. Dann hörte er ganz plötzlich auf. Was das ausgelöst hat, wissen wir nicht genau. Regression, also ein Entwicklungsstillstand oder -rückschritt, ist bei autistischen Kindern nicht selten. Wir wussten damals nur noch nichts von der Diagnose. Von diesem Moment an waren die einzigen Geräusche, die Jim machte, entweder Lachen oder Schreien. Kein bababa oder mamama, nichts. Der Tipp vom Logopäden damals war, unentwegt auf Jim einzureden. Also haben wir alles besprochen, was wir taten. „Mama macht den Ofen auf. Der Ofen ist heiß. Mama holt das Essen aus dem Ofen und macht ihn wieder zu.“ So ging das den ganzen Tag. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann genau Jim wieder anfing zu brabbeln, aber ich erinnere mich, dass es weit nach seinem dritten Geburtstag war. Da haben wir bis zur Erschöpfung „Mama, Papa, Jim und Bob“ mit ihm geübt. Und dann war es plötzlich wieder da, das Geplapper. Wenn ich also sage, dass Jim nicht spricht, dann meine ich eigentlich, dass Jim wenig bis keine Unterhaltung initiiert oder überhaupt führt. Es kommt so gut wie kein Dialog zustande. Zumindest im Moment.

Scripten – was ist das eigentlich?

Jim scriptet. Der Fachausdruck dafür ist Echolalie. Das bedeutet, dass er gehörte Sätze (oder Teile davon) wiederholt. Viele Menschen mit ASS scripten, es ist für sie eine Form des Spracherwerbs. Gern wird es auch TV Talk genannt, weil bevorzugt Teile eines Lieblingsfilms wiederholt werden, und zwar so textsicher als hätte man das Skript auswendig gelernt. Das Gute am Scripten ist die Gewissheit, dass Sprache vorhanden ist. Da es aber nicht immer mit Intention verbunden ist, also oft nicht funktional ist, sind sich Fachleute und Therapeuten nicht einig, ob Scripten gefördert oder unterbunden werden sollte. Bei uns hat das Scripten durchaus geholfen bis jetzt. Jim hat sich gemerkt, dass es bei bestimmten Äußerungen eine Reaktion gibt. Selbst kann er die Sätze noch nicht (oder sehr selten) erzeugen, deshalb nutzt er auswendig gelerntes Material. Ziemlich clever. Und wir haben dadurch eine Kommunikationsmöglichkeit mit Jim. Das bringt uns oft einen großen Schritt weiter.

Funktionales Scripten

Jim schaut gern Bobo Siebenschläfer. Das ist eine Kindersendung, in der mit einfacher Jim RutscheSprache alltägliche Situationen dargestellt werden. Wenn wir auf den Spielplatz gehen, spricht Jim Teile der Spielplatz-Folge nach, um mir mitzuteilen, was er gern machen möchte. Also „Bobo Rutsche“ oder „Bobo Schaukel“. Ab und zu gelingt ihm auch der Transfer von Bobo zu sich selbst: „Jim Rutsche“. Das ist ein Riesenschritt. Jede Folge der Sendung endet damit, dass Bobo ganz gemütlich in den Armen seiner Mutter eingeschlafen ist. Das nutzt Jim, um uns zu signalisieren, dass er müde ist. Dann kuschelt er sich ran und sagt „Bobo Mama Arm einschwaafen“. Auch der kleine Maulwurf wird gern zitiert. Wenn Jim sich morgens eine Hose anzieht, tanzt er fröhlich und ruft „ich kriege eine Hose!“. Genau das macht nämlich der Maulwurf in einer Folge. Wie sehr man sich freuen kann beim Anziehen.

So wohlerzogen!

Manchmal wiederholt Jim auch einfach das, was er hört. Ob er tatsächlich versteht, was er da sagt, wissen wir nicht. Grüße ich jemanden auf der Straße oder bedanke mich für etwas, wiederholt Jim exakt meine Worte. Oft ernte ich dafür bewundernde Blicke. So ein wohlerzogenes Kind! Wenn die wüßten…!  Vor einiger Zeit haben wir eine Dokumentation über amerikanische Basketball-Stars gesehen. An einer Stelle erzählt ein Spieler, wie hoch auf einer Party die Kokain-Haufen aufgeschüttet waren. Cocaine… das war das Wort, das bei Jim hängenblieb. Erklärt das mal im Kindergarten…!

„Ich bin…. Lightning!“

Oft ist Jims Scripten gar nicht funktional. Dann plappert er einfach, ohne etwas Konkretes Jim Handydamit zu bezwecken. Vielleicht beruhigt er sich damit oder es ist seine Form von Spielen. Es gibt jedenfalls Tage, an denen uns abends die Ohren bluten. Da geht der Tag mit Lightning McQueen Zitaten los, wird gefüllt mit Bagger-Geschichten (glaube ich zumindest) und endet mit mindestens dreihundert Wiederholungen von „Ent-schul-di-guuuuuung“ oder „Hatschiii!! Sunnhaiiiiit.“ Das sind dann auch die Tage, an denen er auf die Frage ob wir zum Spielplatz gehen wollen, mit „Whatever“ – aus Zac Brown’s Song Whatever It Is – antwortet. Oder aus dem Nichts „Hey baby! Ooooh yeah!“ aus dem Film Cars raushaut, wenn wir draußen unterwegs sind. Natürlich immer dann, wenn gerade jemand an uns vorbei geht. Manchmal wünsche ich mir, Jim könnte die Situationskomik begreifen, denn ich kann mich jedes Mal kaum halten.

Wir unterbinden oder bestrafen das Scripten nicht. Wir lassen es passieren. Und belohnen es, wenn es im richtigen Kontext kommt. In den Situationen, in denen Jim schon funktional scriptet, geht es jetzt darum, auf den Ich-Bezug zu fokussieren, also von „Bobo Rutsche“ über „Jim Rutsche“ zu „Ich will rutschen“. Da liegt ein ordentlicher Weg vor uns. Und wir feiern jeden Schritt auf diesem Weg. Selbst wenn Jim uns mit „guumooogen“ aus dem Tiefschlaf reißt. Dann sind wir dem Ziel schon wieder ein kleines Stück näher gekommen.