Sei mal laut!
Ich kann meine Klappe nicht halten. War schon immer so. Ich trage mein Herz auf der Zunge und habe für jede Situation eine Story parat. Wenn man über alles redet und sich andauernd mitteilt, kann das manchmal nach hinten losgehen. Im Job zum Beispiel, da sind eigene Meinungen nicht immer gern gehört und können einen auch in mächtig unangenehme Situationen katapultieren. Gute Freundschaften halten es aus, lockere Bekanntschaften lösen sich dadurch oft schnell wieder auf. So trennt sich Spreu vom Weizen, auch nicht immer schlecht.
Für mich ist das so: beschäftigt mich ein Problem, wird es umso weniger bedrohlich, je öfter ich davon erzähle. Das fühlt sich an wie ein prall aufgeblasener Ballon mit einer unheimlichen Fratze. Jedes Mal, wenn ich erzähle, lasse ich ein bißchen Luft aus dem Ballon, bis er irgendwann schrumpelig und schlapp am Boden liegt. Dann ist die Fratze gar nicht mehr unheimlich und das Problem nicht mehr so überwältigend. Bei Erfolgen oder schönen Erlebnissen verhält es sich genau anders herum: je öfter ich das mitteilen kann, umso größer wird die Freude darüber. Wie eine Samenkorn, das durch Gießen und Sonnetanken zu einer schönen Blume heranwächst. Menschen, die immer alles mit sich selbst ausmachen, sind mir unheimlich. Weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass es für die Seele gesund ist. Platzt man da nicht irgendwann? Die ganze Anspannung muss sich doch mal entladen. Oder ist das dann der Moment, in dem man anfängt exzessiv Sport zu treiben?
Erzähl Deine Geschichte
Mein Mundwerk hat es mir nicht immer leicht gemacht. Trotzdem, für irgendwas würde es mal gut sein, da war ich mir immer sicher. Jetzt ist eine Situation eingetreten, in der wir als Familie durchaus von meinem gesteigerten Mitteilungsbedürfnis profitieren. Als offensichtlich wurde, dass Jim in seiner Entwicklung anders war als andere Kinder in seinem Alter, war ich verunsichert. Jim ist unser einziges Kind, ich konnte also nicht auf einen eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Der Ballon mit der häßlichen Fratze stieg langsam auf und machte sich bemerkbar. Also habe ich angefangen, darüber zu sprechen. Ich habe es einfach erzählt. Jedem, der es wissen wollte, oder auch nicht. Ohne Rücksicht auf Verluste (sorry an dieser Stelle!). Hauptsache Luft ablassen aus dem Ballon, immer wieder. Und dann kam plötzlich ein Stein ins Rollen: ganz am Anfang der Diagnose-Odyssee suchten wir einen guten HNO-Arzt, der mit einem unkooperativen Kind umgehen konnte, denn alle bisherigen Arztbesuche waren extrem anstrengend, nervenaufreibend und ergebnislos. Ganz nebenbei habe ich das bei einer Kaffeepause im Büro erwähnt. Nicht dass Kindererziehung unser top topic gewesen wäre, wir hatten da viel wichtigeren Klatsch und Tratsch auszutauschen. Vor mir waberte trotzdem andauernd dieser Ballon. Ich werde meiner Kollegin ewig dankbar sein, dass sie zugehört hat und mir – mit viel Nachdruck – den Professor empfahl, bei dem unsere Odyssee dann ihren Anfang nahm. Und dann führte immer eins zum anderen.
Das Leben ist nicht insta-sexy
Was mich besonders überrascht hat: Nachdem dieser Blog an den Start ging, bekam ich so viele Nachrichten von alten Freunden, neuen Bekannten, völlig Fremden, die mir von ihren Erfahrungen erzählten. Und wirklich alle hatten eine Geschichte zu erzählen. Wie jetzt? Das Leben ist kein sexy Instagram-Feed, es ist nicht immer Gold, was glänzt? Es war wohl auch vermessen von mir zu glauben, dass bei allen anderen immer alles im Lot ist, Bilderbuch-Familie, Norm-Kind, Überflieger. Das hat erstmal gut getan. Auf einmal ist man gar nicht mehr so einsam.
Dann hat es gezwickt. Warum sagt eigentlich niemand was? Wenn alle erzählten, dann würden sich so viele Menschen weniger allein fühlen. Dann könnte man sich finden, Erfahrungen austauschen. Es wäre einfacher, eine Gemeinschaft zu bilden. Wenn doch jetzt bitte alle mal den Mund auf machen könnten. Danke!
Und dann hat es an mir genagt. Vielleicht hatten sie ja erzählt und es hat ihnen niemand wirklich zugehört? Vielleicht hatten sie es vorsichtig mitgeteilt und nicht durch das Megafon gebrüllt. Vielleicht wollte es auch einfach niemand wissen. Deshalb sind sie wieder still geworden, haben ein anderes Ventil für ihren Ballon gefunden.
Ich stelle mir selber auch die Frage: höre ich zu? Lese ich zwischen den Zeilen? Ganz selbstkritisch muss ich zugeben, dass ich in den letzten Jahren nicht gut genug zugehört habe. Ich war viel zu sehr mit erzählen beschäftigt. Ich will es besser machen. Mein Mitteilungsbedürfnis wird sicher bleiben, ich werde weiter sagen, was mich beschäftigt und bewegt. Gleichzeitig will ich aufmerksamer zuhören. Denn dass mir jemand zugehört hat, hat etwas in Bewegung gesetzt, was vorher festgefahren war. Das vergesse ich nicht.
Bitte sei nicht still. Es macht einsam. Irgendwann hört Dich jemand. Irgendjemand braucht genau Deine Geschichte. Sei mal laut!
Liebe Marison,
Deine Gedanken zum Thema des „sich-Mitteilens“ sind so toll geschrieben! Vor allem das Bild des Fratzenballons. Ich sehe es genauso! Ich kann mich zwar nicht jedem öffnen, aber einigen sehr guten Freunden schon. Es hilft ungemein!
Es gibt jedoch so viele Themen, über die nicht gesprochen wird. Ganz persönlich habe ich die Erfahrung gemacht bei Themen wie Fehlgeburt, ehrliche Geburtsberichte, erste Zeit mit Kind…
Meine Erfahrung ist jedoch auch, dass sich viele, wenn man sich selbst öffnet, auch trauen, ihre persönliche Geschichte zum Thema zu erzählen.
Danke Dir für diesen tollen Artikel!
Liebe Grüße aus Deutschland,
Sonia
Liebe Sonia,
vielen Dank für Deine Nachricht. Ich habe das Gefühl, dass sich zur Zeit vieles ändert und viel offener gesprochen wird. Auch traumatische Erlebnisse, wie Du sie beschreibst, werden – Gott sei Dank – immer häufiger öffentlich gemacht. Der Weg ist sicher noch lang, aber die Richtung ist schon ganz gut, finde ich. Wichtig ist natürlich, dass diejenigen, die sich trauen zu berichten, auch Unterstützung erfahren und sich wahrgenommen fühlen. Insofern bin ich Dir wirklich dankbar für Deinen Kommentar. Ich freue mich über jede/n, der/die hier mitliest und etwas für sich mitnehmen kann.
Liebe Grüße aus Wien,
Marison