Schritt für Schritt zurück in die Freiheit

Schritt für Schritt zurück in die Freiheit

24/04/2023 0 Von Marison

Ich kann nicht behaupten, dass unser Leben durch Jims Diagnosen eingeschränkt ist. Es läuft in vielen Aspekten sicher etwas anders ab als in anderen Familien, aber grundsätzlich sind wir nicht eingeschränkt. Bis auf einen Bereich, den wir uns ganz langsam und behutsam zurückerobern, weil er für uns Eltern eine wichtige Rolle spielt.

Oh nein, bloß kein Baby hier!

Jim im PubAls Baby war Jim mit uns überall. Wirklich überall. In jeder Kneipe und in jedem Restaurant. Wenn wir mit Jim reinkamen, trafen uns meistens strafende Blicke. Wahrscheinlich hatten die andere Gäste Angst um ihren geselligen Abend, denn sie konnten sich nicht vorstellen, dass es Kinder gibt, die nicht brüllen. Jim war tatsächlich eins davon. Er lag friedlich in seinem Kinderwagen und schlief. Je lauter es war, desto tiefer schlief er. Es war eine richtig gute Zeit.

Als Jim anfing zu krabbeln und zu laufen, war es vielleicht nicht mehr ganz so entspannt, aber immer noch gut möglich, mit ihm um die Häuser zu ziehen. Er hat sich von Köchen die Küche zeigen lassen oder mit dem*der Wirt*in hinter der Bar für (Un-)Ordnung gesorgt. Bis er irgendwann in seinen Kinderwagen wollte und dort wie gewohnt eingeschlafen ist. Wir waren viel unterwegs. Und gern. Abends gesellig unterwegs zu sein, war unser Ding.

Von Hundert auf Null

Corona machte wohl allen einen Strich durch die Rechnung. Und so saßen wir – wie alle – lange Zeit zuhause. Wir haben es uns so schön gemacht, wie es eben ging. Trotzdem hat es uns gefehlt. Einmal Kneipenkind, immer Kneipenkind. Himmel, waren wir froh, als die Gastronomie wieder öffnete. Wir hatten uns echt was vorgenommen. Wo wir überall hin wollten. Welche Freunde, die Gastronomen sind, wir als erste besuchen wollten. Und dann kam alles anders als gedacht.

Jim kam plötzlich überhaupt nicht mehr damit zurecht. Mit ihm in ein Restaurant zu gehen, war auf einmal ein Ding der Unmöglichkeit. Oft haben wir vor dem Restaurant wieder kehrt gemacht und sind wieder nach Hause gefahren, weil ihn die Situation überforderte, bevor wir überhaupt drin waren. Oder wenn wir es reingeschafft haben, sind wir nach kurzer Zeit wieder gegangen, weil es für niemanden zumutbar war.

Wenn nichts funktioniert

Wir haben alles versucht: wir sind spontan zum Restaurant gefahren. Wir haben Jim tagelang vorbereitet. Wir hatten an Safe Food und Unterhaltung alles dabei. Wir sind an bekannte Orte gefahren. Wir haben neue Orte ausprobiert. Nichts war machbar. Und so blieb ich zuhause mit Jim. Denn er hatte auch eine veritable Trennungsangst entwickelt. Damit fiel auch das Thema Babysitter aus. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in den letzten zwei Jahren abends allein weg war. Dass Ollie und ich einen Abend zusammen verbringen – ohne Jim – ist bis heute undenkbar. Aber man gewöhnt sich ja an alles.

Wenn es um Bedürfnisorientierung geht, dann ist es durchaus so, dass wir uns sehr nach Jims Bedürfnissen richten. Aber ab uns zu müssen unsere Bedürfnisse auch eine Rolle spielen. Man verkümmert ja sonst. Und unser Bedürfnis nach Sozialkontakt und Geselligkeit war (und ist) eins, das nicht wegdiskutiert werden kann. Also haben wir den Entschluss gefasst, es ganz langsam wieder zu versuchen. Indem wir ein Setting finden, das für alle funktioniert. Und so sind wir zu unserer neuen Stammkneipe gekommen.

Unser neues Wohnzimmer

Jim in der KneipeEin Ort, der groß und übersichtlich genug ist, dass Jim sich dort bewegen kann, ohne dass wir andauernd nach ihm schauen müssen. Wo die anderen Gäste so entspannt sind, dass sie aushalten, wenn ein Kind zigmal an ihrem Tisch vorbeirennt. Wo Jim von den Kellner*innen wahrgenommen wird und auch mal hinter die Bar schauen darf, ohne Ärger zu bekommen. Wo es etwas zu essen gibt, was wir alle gern essen. Wie ein zweites Wohnzimmer. Mit dem Unterschied, dass man sich sein Bier nicht selbst holen muss.

Und dann haben wir uns auch zeitlich angepasst. Was früher lange Abende waren, sind heute verlängerte Nachmittage. Wir sind da, bevor die Abendmasse kommt. Und wenn es voll wird, machen wir uns auf den Weg nach Hause. Das ist für uns vielleicht noch nicht ganz ideal, aber es ist kompatibel mit Jims Bedürfnis. Und somit ein guter Kompromiss. Noch vor ein paar Monaten hätten wir uns gar nicht vorstellen können, dass das überhaupt wieder möglich sein würde.

Es ist nicht kompromisslos

Schritt für Schritt geht es also für uns zurück in die Freiheit, die uns so wichtig ist. Vielleicht werden wir, wenn es jetzt wärmer wird, auch mal einen anderen Ort ausprobieren. Und wenn das klappt, noch einen dritten Ort in unser Portfolio aufnehmen, damit wir auch ein bißchen Abwechslung haben. Vielleicht probieren wir es mal an einem anderen Tag. Oder bleiben eine Stunde länger. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Was mir die letzten Jahre gezeigt haben: nichts ist in Stein gemeisselt. Dinge, die ganz lange Zeit nicht gehen, können wieder möglich werden. Vielleicht auf etwas andere, eben angepasste, Weise, aber trotzdem möglich. Und vielleicht nicht heute oder morgen, aber in ein paar Wochen, Monaten oder auch Jahren. Ich vertraue darauf, dass die Dinge zu ihrer Zeit passieren. Das Leben mit einem autistischen Kind ist kein kompromissloses Leben. Man muss sich hin und wieder trauen. Der Tag wird kommen, da wird Jim keinen Bock mehr haben, mit uns unterwegs zu sein. Dann werden wir all die Abende zu zweit nachholen können, die jetzt nicht gehen. Alles zu seiner Zeit.