Schönes Miteinander
Es fühlt sich seltsam an, etwas Schönes zu schreiben. Aber ich habe mich daran erinnert, dass das Schreiben mein Outlet ist. Und in Zeiten, in denen die schlechten Nachrichten aus allen Richtungen auf einen einprasseln, muss man auch gezielt nach den guten Dingen Ausschau halten. Psycho-Hygiene. Jedenfalls möchte ich euch zwei schöne Geschichten von Jim erzählen.
Wir hatten am Wochenende Besuch. Jims Kumpel Paul war mit seinen Eltern da. Paul heißt eigentlich gar nicht Paul, aber das ist spielt keine große Rolle für die Geschichte. Paul ist ein Jahr älter als Jim und hat sich selbst ein bißchen zum großen Bruder ernannt. Jim hat sich schon den ganzen Tag gefreut, denn wir haben nicht so oft Kinderbesuch hier.
Hauptsache zocken!
Die zwei Jungs sind kurz mal in Jims Partykeller verschwunden (so nennen wir das Zimmer, in dem sich aufräumen einfach nicht lohnt), aber wirklich nur sehr kurz. Zack waren sie wieder im Wohnzimmer und haben nach Mario Kart verlangt. Jim hat noch nie im Zweier-Modus gespielt, ich war mir also nicht sicher, ob das gutgehen würde. Ging es aber. Und zwar auf Anhieb. Die beiden Kerle sind Runde um Runde gefahren und haben dabei immer die ersten beiden Plätze belegt. Profis an den Controllern! Und wir Eltern konnten sehr in Ruhe plaudern und Kaffee trinken. Win win!
Einige werden jetzt denken: jaaaa, klar, einfach die Kinder wieder vor einen Bildschirm setzen, ihr macht es euch ja einfach. Schön ruhig stellen und so… wisst ihr, so einfach ist das nicht. Da saßen nun zwei Kinder, die sehr unterschiedliche Spielweisen haben und für die es schwierig ist, die Spielweise des jeweils anderen nachzuvollziehen. Natürlich hätten wir sie mit einem pädagogisch wertvollen Brettspiel quälen können. Oder die Bastelsachen auf den Tisch packen können. Dann hätte jeder für sich etwas gemacht. Oder „laaaangweilig!!“ gerufen. Und das Frustpotenzial wär durch die Decke gegangen (rw).
Spiel mit Sinn
Mario Kart war der gemeinsame Nenner. Da waren die beiden gleich gut. Und auch gleich interessiert. Das hat gemeinsam funktioniert. Und als Paul mal genug hatte vom Rennen fahren, da hat Jim ihm unablässig den zweiten Controller hingehalten und ihn animiert mit „Paul, come on, I want play! Come on, Paul, play!“ Und Paul hat getan, was ein toller Kumpel eben macht. Abends ist mir dann eingefallen: das war das erste Mal, dass ich erlebt habe, wie Jim ein anderes Kind zum Spielen auffordert. DAS. IST. EIN. RIESENDING.
Normalerweise beschäftigt Jim sich allein. Er tobt zwar mit anderen Kindern, aber wirklich gemeinsames Spielen findet nicht statt. Sicher liegt das an der Sprachbarriere. Und auch daran, dass die Spielregeln für ihn oft zu komplex sind. Oder vielleicht sieht er einfach keinen Sinn in den Spielen?! Mario Kart hat er sich selbst beigebracht und auch immer allein gespielt. Nach unserem Wochenendbesuch allerdings ist das anders. Jetzt fordert er Ollie und mich in einer Tour heraus. Und kratzt heftig an meinem Ego, denn er ist wirklich gut! Bei diesem Spiel scheint er einen Sinn im Zusammenspiel zu sehen. Meinetwegen kann die Switch jetzt hier die ganze Zeit an sein, denn auch wenn Computerspielen immer einen schlechten Ruf als „Einzelgänger-Ding“ hat – bei uns trägt es zu viel Kommunikation und Miteinander bei.
Salzteig und Baby Shark to the rescue
Aber nicht nur beim Switch-Spielen sucht Jim Gesellschaft. Gestern zum Beispiel hat er seinen Hocker in die Küche geschoben, Nudelholz, Mehl und Keksausstecher aus der Schublade geholt und eine große Schüssel auf die Arbeitsplatte gestellt. Dann kam er, das Nudelholz schwingend, zu mir und rief: „Mommy, come Küche! I want make cookies! Come, Mommy, Küche cookies!!“ Vielleicht muss man da wissen, dass Jim die Kekse nicht isst. Und Ollie auch nicht. Bleibt also immer alles an mir hängen *grässlich*! Jetzt ist aber Fastenzeit und ich hatte mir geschworen, mal langsam zu machen mit Zucker. Also: Salzteig!
Und so standen wir zusammen in der Küche und haben jede Menge Salzteig-Sterne, -Engel und -Weihnachtsbäume ausgestochen und dabei (ich flipp bald aus!) „Baby Shark düdüdüdüdüüü“ gesungen. Dann musste ich daran denken, dass es mich oft traurig gemacht hat, dass Jim früher so wenig Interesse an solchen Dingen gezeigt hat. Man muss vielleicht einfach Geduld haben und nicht (er)warten. Es passiert, wenn es soweit ist. Und im Moment ist es bei uns offensichtlich soweit.
Von wegen Einzelgänger!
Diese beiden Beispiele sollen auch mit dem Vorurteil aufräumen, alle Autist*innen seien Einzelgänger*innen und würden sich in sozialen Settings nicht wohlfühlen. An Jim merke ich, dass er weder Einzelgänger ist noch sich unwohl fühlt. Es geht für ihn vielmehr darum, wie genau die Situation abläuft. Solange er eine Form der Kontrolle und Übersicht hat oder das ganze initiiert, ist er voll dabei. Setzt man ihn aber unvorbereitet in eine solche Situation, überfordert ihn das, was sich entweder in vermeintlichem Desinteresse oder Reizüberflutung äußert. Für mich liegt hier der Schlüssel zu unserem Miteinander: Jim einfach selbst entscheiden lassen, ob er möchte oder nicht. Anbieten, aber nicht zwingen. Ihn einfach machen lassen. Er geht dann seinen Weg. Und meistens nimmt er uns dabei auch an die Hand.
🤩🤩🤩
😉❤️
Deine Erzählungen über Dein Leben mit Jim lese ich wirklich gerne. Sie sind offen, ehrlich, nachvollziehbar, dennoch warmherzig und lebensfroh. Ich habe großen Respekt davor, wie Du Dir Euren eigenen Weg ermöglichst.
Vielen lieben Dank! Ach weißt Du, es ist gar nicht schwer. Jim gibt den Takt vor und dann laufen wir alle gemeinsam durch das Leben. Bis jetzt funktioniert das gut. Manchmal leichter, manchmal schwerer. Aber nie schlimm. ❤️
Super 😘🤗🍀