Pure AUsomeness
Wenn man den Verdacht hat, dass das eigene Kind vielleicht autistisch ist, machen die meisten Eltern wohl das, was ich auch gemacht habe: sich durch alle auffindbaren Facebook-Gruppen wühlen, die sich mit dem Thema Autismus beschäftigen. Das ist nicht immer eine gute Idee und unglaublich deprimierend. Ich bin mir sicher, dass ich mit diesem Post einigen Betroffenen auf die Füße trete und vielleicht auch auf Unverständnis stoße. Aber ich habe mir vorgenommen, in diesem Blog ehrlich zu bleiben. Wer das nicht aushält, sollte hier schon aufhören zu lesen. Wer tapfer ist und bis zum Ende dran bleibt, denkt vielleicht nach dem Lesen anders über die eigene Kommunikation.
Ein Jammertal
In den Untiefen der sozialen Netzwerke gibt es für so ziemlich alles Gruppen und Seiten. Für jeden Kink, jedes Spezialinteresse und für die sonderlichsten Herausforderungen. Und eben auch eine Unzahl an Gruppen, die sich mit Autismus auseinandersetzen. Dort tummeln sich vor allem besorgte Eltern, die noch keine Diagnose haben, erschöpfte Eltern, die Zuspruch brauchen und verärgerte Eltern, die sich wahnsinnig über die Ungerechtigkeiten der Krankenkasse oder anderer Institutionen aufregen müssen. Auffällig ist bei deutschsprachigen Gruppen, dass der Grundton immer jammernd ist. Alles ist schrecklich. Mein Kind funktioniert nicht so, wie es sollte. Ich halte das nicht aus. Ich kann nicht mehr. Mein Kind kapiert einfach nix. Keiner hilft mir. Das kann doch nicht mein Leben sein. Man wird das Gefühl nicht los, dass alles Unrecht dieser Welt von den Kindern ausgeht. Es scheint, als würden die Eltern ihren Kindern die Schuld dafür geben, dass ihr Leben schwierig ist. Besonders nervig finde ich das andauernde Misstrauen gegenüber Institutionen und Fachleuten. Ständig werden Kindergärten schlecht gemacht, oder irgendein Amt lässt sich wieder zu viel Zeit, oder man hat das Kind selbst diagnostiziert und der Psychologe oder Arzt sieht das unverschämterweise anders. Ja, wenn Du mit den Leuten genau so sprichst, wie Du Deinen Post verfasst, dann muss es Dich auch nicht wundern, wenn der Kindergarten keine Lust hat Dir entgegenzukommen, das Amt sich nicht beeilt und der Arzt oder Psychologe einfach mit den Augen rollt. Sei mal entspannt. Keiner will Dir was Böses.
Go, momma!
Und dann gibt es das totale Kontrastprogramm. Wenn man ganz tief im Jammertal feststeckt, dann kommen die Amerikaner um die Ecke und schmeissen die most AUsome Party, die man sich vorstellen kann. Durch einen Zufall bin ich auf auf die Seite von Kate Swenson gestoßen, Finding Cooper’s Voice. Cooper ist Autist und pre-verbal. Auf ihrer Seite erzählt Coopers Mutter Kate aus dem Familienleben. Ich fand es beeindruckend, mit welcher Kraft und Freude sich Kate für ihren Sohn einsetzt und dabei vor allem aufklärt. Innerhalb von Finding Cooper’s Voice gibt es auch eine nicht-öffentliche Support-Gruppe, Coop’s Troop. Wer Mitglied von Coop’s Troop werden möchte, zahlt einen kleinen monatlichen Beitrag und unterstützt damit Kate – und letztendlich auch eine große Zahl an Eltern autistischer Kinder. Ähnlich wie in deutschsprachigen Gruppen treffen sich dort Eltern autistischer Kindern und tauschen sich aus. Das Besondere an dieser Gruppe ist: es ist der vorurteilsfreiste Ort, den ich kenne. Hier kann alles, wirklich ALLES, gefragt werden. Und mit Sicherheit gibt es jemanden, der die Situation ganz genau nachempfinden kann oder eine gute Idee hat.
Das Beste an Coop’s Troop allerdings ist: alle feiern ihre Kinder richtig ab! Jeder erreichte Meilenstein, und sei er auch noch so klein, wird von einem Feuerwerk an Zuspruch und viel „go, momma“ begleitet. Und das hilft. Es findet kein Institutionen-Bashing statt, alle sind gut und freundlich zueinander. Coop’s Troop ist mein facebook-Wohlfühlort. Und es ist faszinierend, wie unterstützend eine Riesengruppe an Menschen, die sich zum größten Teil nicht persönlich kennen, sein kann. Virtuelle Freunde eben. Jeden Monat gibt es irgendeine Elfster-Aktion, es werden Statement-Kaffeebecher durch die Welt geschickt, Geburtstagskarten für die Kinder aus aller Herren Länder versendet, Zoom Calls für alle möglichen Themen angeboten und und und. Vereinsmeierei ist echt nicht mein Ding, aber diesem Club gehöre ich wirklich gern an. Das klingt vielleicht abgedroschen: bei Coop’s Troop versuchen die Eltern nicht, ihre autistischen Kinder zum Funktionieren zu bringen. Sondern sie tauschen sich aus, wie sie ihren Kindern den Zugang zu einer überwiegend neurotypischen Welt erleichtern oder überhaupt ermöglichen können.
(Anm.: Autocorrect macht aus „neurotypisch“ immer „neurotisch“. Auch nicht schlecht!)
Mach’s Dir bunt
Ich bin nicht unbedingt bekannt dafür, eine Frohnatur zu sein. Ich habe jahrelang auf allerhöchstem Niveau gemotzt und gejammert, fast professionell. Rumpesten war mein Hobby. Irgendwann konnte ich mir nur einfach selber nicht mehr zuhören. Seit Thanksgiving besteht mein facebook-Feed nur noch aus Elf-on-the-shelf-Bildern, sehr bunten Weihnachts-Leggings und -Shirts, vielen Tips für Shopping bei Target (ich will so einen Laden auch haben!!) und vor allem vielen Ideen, was man mit Kindern im Lockdown machen kann, die eben nicht auf das klassische Programm abfahren. Und ich finde das großartig. Totaler Gute-Laune-Boost. Viel virtuelles Lametta und Konfetti.
Geteiltes Leid ist nicht immer halbes Leid
Es ist doch so: wer ein Kind hat, das über das normale Maß hinaus therapeutische oder medizinische Hilfe benötigt, hat andauernd mit Formularen, Einrichtungen und allerlei Kämpfen zu tun, zusätzlich zu der Herausforderung zuhause. Wenn man sich dann in der freien Zeit auch noch mit Jammern und Beschweren beschäftigt, hält man das überhaupt aus? Der ein oder andere denkt jetzt: „Ja, aber wenn ich mich unter Gleichgesinnten nicht auch mal auskotzen darf, was mache ich denn dann? Irgendwo muss ich das doch mal loswerden!“ Ganz ehrlich: Dein Leben ist, was DU daraus machst. Frag Dich mal, ob es Dir WIRKLICH besser geht, wenn Du in einer facebook-Gruppe Dein Gejammer rausgeblasen hast. Letztlich hast DU nur Deinen Scheiß auf anderen abgeladen, die auch schon ein Päckchen durchs Leben tragen. Wer immer nur darauf schaut, was alles anstrengend ist, der verliert den Blick für die Erfolge und leichten Momente.
Das Leben mit Jim ist herausfordernd, ja. Aber das können nun wirklich alle Eltern vom Leben mit Kindern behaupten. Es gibt natürlich Tage, an denen ich mir die Haare raufe und mich frage, warum nicht wenigstens einen Tag lang alles mal ganz normal sein kann. Das sind dann meistens die Tage, an denen Jim mich abends doch noch mit irgendwas überrascht. Wie vorgestern zum Beispiel: da kamen wir vom Kindergarten nach Hause und Jim hat situationsgerecht zum ersten Mal einen ganzen Satz gesagt: „Take off your shoes.“ Wie geil ist das denn bitte?? Das ist, woran ich mich erinnern möchte. Nicht die Dinge, die an dem Tag nicht so gut funktioniert haben. Also, lass mal das Gejammer über Deine Situation sein. Happiness, gratitude and kindness – sprinkle that shit everywhere!
Liebe Marison!
Ich wollte dir nur kurz sagen: Du schreibst wunderbar! Ich weiss gar nicht, ob du mich noch kennst- die „Katha Prinz“ aus der Dilthey! Na, ich lese deine Posts immer sehr gerne und freue mich über News von Jim! Ich habe ein nicht- autistisches 3-jähriges Mädchen in der absoluten Pinkigirlglitzereinhornelsaphase und trotzdem oder gerade weil die Kids bestimmt total verschieden sind, finde ich mich oft sehr wieder in dem, was du erzählst! Als Konsequenz aus deinem Post bin ich gerade aus jeglichen „Mamigruppen“, zu denen ich (von wem eigentlich??) hinzugefügt wurde, ausgetreten…. Bitte kein Gejammer mehr, wie Scheisse alles ist- mit Trotzkind, den Kitas, mit Corona, mit Weihnachten…. Freu dich doch mal und „machs dir bunt“!!!!
Vielen lieben Dank und einen ganz besonders schönen Tag für Euch 4 mit vielen kleinen positiven Überraschungen! Liebe Grüsse aus Zürich!
Ja, natürlich erinnere ich mich!!! Wie schön, dass Du auch mitliest.
Ach, weißt Du, in vielen Dingen sind sich autistische und neurotypische Kinder ja auch ähnlich. Kinder bleiben Kinder. Ich bin irgendwann aus vielen Gruppen auch ausgetreten, einfach weil ich gemerkt habe, dass ich ausser schlechte Laune nichts davon hatte. Ich hab mir das Gejammer von anderen angehört und das hat mich runtergezogen. Hatte ich keine Lust mehr drauf. 2020 hat mir wirklich jeden Grund zum Jammern gegeben. Aber ausgerechnet in diesem Jahr hab ich mir gedacht: „es ist, was es ist. Also: weitermachen, Spaß haben!“
Dir uns Deiner Familie wünsche ich frohe Weihnachten und einen guten Rutsch in ein hoffentlich entspannteres Jahr. Bleibt gesund und passt auf euch auf!
Alles Liebe, Marison
Bitte unbedingt weiter schreiben!
Ich bin so begeistert von dem Blog, möchte am liebsten zu euch fahren und irgendwie hilfreich sein, oder zum Spielplatz kommen, damit Marison dort plaudern kann, oder oder…
Ganz ehrlich, wenn ich irgendwie unterstützen kann, dann bitte melden.
lg drw
Ach, wie lieb von Ihnen! Ja, ich werde sicher weiterschreiben, versprochen. Und ich melde mich gern, wenn es etwas gibt, was Sie tun können. Wenn der ganze Corona-Spuk vorbei ist, komme ich auch gern mal auf einen Kaffee in die AHR.
Bis dahin, alles Liebe,
Marison