Oh du fröhliche Selbstoptimierungszeit
Ja herrlich, da ist sie wieder: die besinnliche Zeit. Die Tage, in denen Selbstoptimierung wieder ganz nach oben auf der To-Do-Liste rutscht. In der man sich bitte vornimmt, es mal ganz ruhig angehen zu lassen, in sich reinzuhören und mal richtig anständige Me-Time zu machen. Am besten nimmt man sich dafür einen dieser klugen Ratgeber zur Hand. Oder ein flottes Instagram-Profil, auf dem eine junge Frau lächelnd erzählt, dass man sich doch nur Zeit für sich selbst nehmen muss, dann wird schon wieder alles gut. Alles eine Frage des Mindsets und des gelungenen Pep-Talks. Oder?
Der gelungene Start in einen erfolgreichen Tag
Stellst du dich auch jeden Morgen erstmal vor deinen Spiegel und erzählst dir selbst, dass du ein liebenswerter Mensch bist? Während hinter dir das warme Badewasser einläuft, du dir dein Buch schnappst und die Duftkerze anzündest? Ja, du startest so deinen Tag? Und, hilft’s? Vielleicht sagst du dir auch einfach, dass man Zeit niemals hat, sondern sich nimmt. Dann kommt der Babysitter oder die Oma und du ziehst mit deinen Freund*innen los? Denn schließlich muss man sich auch mal was gönnen. Und danach erzählst du mir, dass ich das auch unbedingt mal machen müsste, weil das ja so gut tut. Zeit für sich. Man ist ja schließlich auch noch ein eigenständiger Mensch, nicht nur Elternteil.
Vielleicht bringst du dein Kind erstmal in den Kindergarten oder in die Schule, um danach den Pilates-Kurs im Fitness-Studio zu belegen. Im Anschluss lässt du dir die Wimpern machen oder gönnst dir ein sauteures Designer-Teil, das du dann in deiner Instagram-Story teilst („no hate bitte, macht mir den schönen Moment nicht kaputt. Ich mach das ja auch nur gaaaaanz selten!“). Zuhause legst du dich noch auf deine Nadelmatte und schließt mal für 15 Minuten die Augen, um zur Ruhe zu kommen. Ach, so schön!
Mangel an Selbstdisziplin ist nicht die Antwort auf alles
Fehlende Zeit für sich selbst liegt nicht immer in mangelnder Selbstdisziplin begründet. Sie ist kein Zeichen für Versagen oder für ein falsches Mindset. Sie ist lediglich ein Zeichen dafür, dass Lebensrealitäten sehr unterschiedlich sind. Nicht jede*r KANN sich die Zeit für sich selbst nehmen. Die Eltern des Kindes, das intensivpflegebedürftig ist zum Beispiel. Oder des Kindes, das sich schlicht nicht fremdbetreuen lässt. Das sind nur zwei von vielen Beispielen.
Die Male, die ich in diesem Jahr alleine abends mit Freund*innen unterwegs war, kann ich an einer Hand abzählen. Und bitte glaub mir: ich will das schon, aber es geht eben nicht. Wie soll ich denn einen Abend genießen, wenn ich weiß, dass mein Sohn in Panik ist und nicht versteht, weshalb ich nicht zuhause bin? Wenn ich weiß, dass er sich in den Schlaf weint? Sollte ich dann einfach jeden Tag mal 15 Minuten die Augen schließen und an meinem Mindset arbeiten? Ja, vielleicht. Oder besser nicht.
It takes a village
Versteh mich nicht falsch. All das steht dir zu. Du darfst das alles. Und du musst überhaupt kein schlechtes Gewissen haben. Bis zu dem Punkt, an dem du mir das Gefühl gibst, dass mein Lebenswille offensichtlich nicht ausgeprägt ist, weil ich das nicht mache(n kann). Es ist doch so: deine Selbstverwirklichung und deine Me-Time-Celebration funktionieren nur, wenn du ein funktionierendes Support-Netzwerk hast, deine Kinder keinen erhöhten Pflege- oder Betreuungsaufwand haben oder sie schon so alt sind, dass du sie ganz entspannt auch mal allein lassen kannst.
Die 10-Punkte-Liste für ein erfülltes Leben funktioniert eben nicht für alle. Das macht ja erstmal nichts. Aber dass es den Anschein erweckt, ich sei einfach nur nicht tough und willensstark genug, um bestimmte Dinge für mich selbst zu tun, das macht ganz viel. Es nährt die Selbstzweifel, mit denen vor allem Eltern behinderter Kinder oft zu tun haben, auf eine besonders perfide Weise. Weil wir nicht mitgedacht werden. Das ist Fakt. Und ja, du kannst es eben nicht allen recht machen, das stimmt schon. Nur: deine Intention, andere aufzubauen, sorgt gleichzeitig auch dafür, dass sich viele eben gar nicht gesehen fühlen.
Ich frage mich, wann es passiert ist, dass alles in gut und schlecht eingeteilt wird, in optimal und miserabel. Ich freue mich für dich, wenn bei dir alles optimal und super läuft. Du ein erfülltes Sozialleben hast und dich „gefunden“ hast. Richtig toll. Das meine ich ganz ernst. Bei mir läuft nicht alles optimal, mein Sozialleben ist nicht existent und „gefunden“ habe ich mich noch lange nicht. Das macht mein Leben für mich nicht miserabel. Für dich vielleicht.
Durch die Gardinen
Und wenn ich schon dabei bin: wann ist es passiert, dass wirklich alles bewertet wird? Für wen spielt es denn tatsächlich eine Rolle, ob ich heute schon 5.000 Schritte gelaufen bin? Oder ob der Weihnachtsmann, das Christkind oder Mama-Papa-Oma-Opa-Tante-Onkel die Geschenke bringen? Ob man an Heilig Abend Geschenke-technisch eskaliert oder die Kinder sich in Verzicht üben müssen aus pädagogischen Gründen? Ob ich Nützliches schenke oder den Wunschzettel einmal von oben nach unten? Seit wann müssen wir uns aneinander messen und vergleichen? Und seit wann darf mir jemand in einem vor Moral triefenden Post vorschreiben, wie ich mein Leben lebe, solange es doch keine Auswirkungen auf andere hat?
Meine persönliche Antwort darauf: als wir angefangen haben, alles ins Internet zu stellen und gleichzeitig die Bewertungskeule zu schwingen bei allen, die es anders machen. Im Grunde sind wir auch alle nicht besser als die Dorfnachbarn, die heimlich zwischen den Gardinen durchschielen, um sich über die anderen zu echauffieren und zu erheben. Davon mache ich mich nicht frei, wer kann das schon. Ich kann mich auch von Selbstoptimierung nicht gänzlich freimachen. Und so fasse ich auch einen Neujahrsvorsatz: mir das alles nicht mehr so sehr zu Herzen zu nehmen. In diesem Sinn: kommt wie ihr möchtet und könnt ins neue Jahr.
Wie sang schon Depeche Mode: try walking in my shoes – ♥️🙈!! 😘