Merhaba, mein Freund!

Merhaba, mein Freund!

14/03/2022 5 Von Marison

Manchmal frage ich mich, wie oft Jim uns etwas erzählt, das wir gar nicht verstehen. Damit meine ich nicht, dass wir ihn akustisch nicht verstehen oder er undeutlich spricht. Oder dass er in einer Fantasiesprache kommuniziert. Sondern dass er tatsächlich ganz konkret etwas sagt, nur eben nicht in einer Sprache, die wir verstehen. 

YouTube – es ist nicht alles schlecht

Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet Jim eine Affinität zu Sprachen entwickelt hat. Er lernt Vokabeln und versucht sie einzusetzen. Nur eben anders als man es gewohnt ist. Es ist kein Geheimnis, dass Jim verhältnismäßig viel am Tablet beschäftigt ist. Lange Zeit habe ich versucht, ihn von YouTube Kids zu überzeugen, aber keine Chance. Dort findet er nicht die Videos, die er sucht. Macht es mich manchmal unentspannt, dass er doch sehr frei durch Youtube stöbert? Klar. Aber ich weiß auch, dass er eben auf ein paar Videos fixiert ist und der Rest für ihn völlig uninteressant ist.

Eine Weile hat Jim immer Videos von einem Japaner geschaut, der allerlei Unfug treibt und dabei unglaublich nervig und laut lacht. Ich war sehr froh, als diese Phase vorbei war. Seitdem schaut er einen Mix aus Mario Kart-Tutorials und Videos, in denen Kinder einfach spielen. Da gibt es „Vlad & Nikki“, von denen Jim die Dauerschleifensätze „I’m not a baby!“ und „That’s amaaaaaaaazing!“ hat. Ich mag Vlad und Nikki nicht besonders, aber ihre Videos sind weniger riskant als die vom Japaner, der stundenlang versucht von der Couch auf eine Wassermelone zu springen. Ganz besonders aufmerksam ist Jim aber bei zwei anderen Kindern, von denen ich nicht weiß, wie sie heißen. Offensichtlich spielen sie aber für diese Geschichte eine wichtige Rolle.

Jim Wippe#lieblingsspielplatz

Am Samstag waren Jim und ich auf dem Spielplatz. Das Schöne an diesem Spielplatz ist, dass dort ganz viele Familien sind, die wenig oder gar kein Deutsch sprechen. Das bedeutet, dass Jim nicht das einzige Kind ist, das eine Sprachbarriere hat, auch wenn die Gründe andere sind. Die Kinder spielen und toben miteinander und brauchen dafür gar nicht viele Worte. Das ist auch für Jim super, weil es ihn nicht überfordert. Oft spielt Jim dort mit einem Jungen, der auch am Wochenende wieder da war. Und folgendes ist passiert: Die Mutter sitzt auf einer Parkbank, etwas weiter weg von uns. Jim läuft hin, sie fragt ihn etwas, er antwortet und kommt mit einem Schokoriegel im Mund wieder zurück. Beziehungsweise mit den Schokoriegel-Spuren im Gesicht, denn Schokolade wird bei Jim sofort und auf der Stelle verputzt! 

„Ist das wirklich Ihr Sohn?“

Dann fällt Jim offensichtlich ein, dass es bei mir nur einen Apfel gibt, den ich noch in der Tasche habe, also läuft er wieder zu der Mutter auf der Parkbank. Sie fragt ihn wieder etwas, er antwortet, schüttelt den Kopf und kommt – diesmal ohne Essen – wieder zum Spielplatz zurück, um mit seinem Freund dessen Lightning-McQueen-Fahrrad zu bestaunen („wooooow, Mommy, look! Ich brauche Fahrrad!“… überhaupt „braucht“ Jim im Moment sehr viel.) und die Rutsche hoch und runter zu jagen.

Die andere Mutter macht sich auf den Weg zu mir und fragt mich etwas, das ich nicht verstehe. Sie ist irritiert und fragt nochmal, diesmal auf Deutsch, ob ich Türkisch spreche. Nein, sage ich, leider wirklich gar nicht. Das irritiert sie noch mehr und sie fragt mich, ob Jim mein Sohn sei. Ja, sage ich. „Aber Ihr Sohn spricht Türkisch?!“ Naja, „sprechen“, denke ich. Und erinnere mich daran, dass Jims Logopäde mir ja schonmal erzählt hatte, dass Jim ein Eis auf Türkisch bestellen kann. Aber das war’s dann auch. Ich frage also nach, was er denn sagt?! Bitteschön:

Jim: „Merhaba!“ (Hallo!)

Mutter auf Türkisch: „Hallo! Möchtest Du Schokolade?“

Jim: „Evet. Teşekkürler“ (Ja. Danke.)

Mutter auf Türkisch: „Möchtest Du auch Salzstangen?“

Jim: „Hayir.“ (Nein.)

Mutter: „Möchtest Du etwas anderes?“

Jim: „Hmmm, dondurma?“ (Hmmm, Eis?)

Mutter: „Eis habe ich nicht.“

Jim: „Tamam.“ (Okay.)

Freund: „Gehen wir spielen?“

Jim: „Tamam.“ Er dreht sich zur Mutter um, winkt und ruft: „Güle güle!“ (Tschüss.)

Sprachkurs für mich

Ich unterhalte mich noch ein wenig mit der Mutter, die erst seit einigen Monaten in Österreich lebt und noch nicht sehr viel Deutsch spricht, aber immer wieder Google Translate bemüht, damit wir uns verständigen können. Wir einigen uns darauf, dass sie mit ihrem Sohn Deutsch lernt und ich Türkisch mit Jim. Ein kleines Spielplatz-Sprach-Tandem. 

Jim mit MausIch bin erstaunt, wie schnell Jim die Sprache richtig zuordnen und gezielt auf ihre Fragen antworten konnte. Gleichzeitig frage ich mich, wie oft Jim schon mit mir gesprochen hat, und ich habe es als Quasseln oder Fantasiesprache abgetan, weil ich es eben nicht verstehen konnte. Vielleicht werde ich jetzt mit ihm gemeinsam die Videos anschauen. Und vielleicht ist das genau sein Ding: einfache Kommunikation in vielen verschiedenen Sprachen. Es erleichtert mich jedenfalls sehr, dass Jims vermeintliches „Gulligulli“ nicht die von mir befürchtete, noch immer andauernde Aramsamsam-Phase ist, sondern die ganze Zeit schon „güle güle“ war. Jim muss gedacht haben, ich sei übergeschnappt, wenn ich zum Abschied das schrecklichste aller Kinderlieder angestimmt habe. Zumindest würde das seine Reaktion erklären. Die war nämlich immer: „Huh? What? No, mommy!“