Bei einer Sache waren wir uns einig: ein Kind würde unser Leben nicht grundlegend ändern, nicht unseren Alltag bestimmen. Es würde mitlaufen, ein entspanntes Kind sein, das man überall mit hinnehmen kann. Davon waren wir überzeugt. Fast forward 4 Jahre – SPOILER ALERT: es kam anders.
Jim ist im September 2016 geboren und war – so nenne ich es – ein Anfängerbaby. Er war Schlafprofi. So sehr, dass wir die Auflage von Ärzten und Hebamme hatten, ihn immer mal wieder zu wecken. Mit acht Wochen hat er die Nacht durchgeschlafen. Zahnen war halb so wild. Das habe ich immer für mich behalten, wenn andere Mütter von ihrem Schlafdefizit und schreienden, zahnenden Kindern gesprochen haben. Im Stillen dachte ich mir: super, hab ich Glück gehabt. Bekommt eben doch jeder das Kind, das er/sie handeln kann.
Die Monate gingen ins Land und Jim blieb ein entspannter Junge. Er war nicht besonders aktiv, hat gern einfach geschaut und beobachtet. Wir haben uns dabei nicht viel gedacht. Kinder entwickeln sich schließlich unterschiedlich schnell, und Jim hatte – wenn auch mit leichter Verzögerung – erstmal alle Meilensteine erreicht. Manchmal habe ich gewitzelt: er hat zuweilen was Autistisches an sich, so wie er da sitzt und beobachtet. Die Waschmaschine hatte es ihm angetan, eigentlich alles, was sich dreht. Gebrabbelt hat er kaum, manchmal „babababa“. Gesichtsausdrücke imitierte er nicht, das hat mich auch nicht weiter irritiert, ist ja nicht jedes Kind gleich. Trotzdem war ich versunken in „kluge“ Websites, die mir verrieten, welche Entwicklungsschritte Kinder in einem bestimmten Alter machen, was sie können sollten. Und dabei stellte ich immer öfter fest, dass Jim in vielen Dingen einfach anders war. Oft habe ich mich dann selbst beruhigt mit „er ist eben ein Spätzünder. Typisch Junge!“.
Jedes Kind lernt irgendwann sprechen… oder?
Nach und nach habe ich diese Beruhigung wie ein Mantra vor mich her gemurmelt. Dann, wenn die gleichaltrigen Kinder meiner Freunde wieder etwas Neues konnten und Jim weiterhin da saß und beobachtete. Wenn sie Mama und Papa sagten. Oder Tiergeräusche nachahmten. Oder bei „Wenn Du fröhlich bist“ stolz in die Hände klatschten. Jim saß und beobachtete. Dass er oft „ganz bei sich“ und in seiner eigenen Welt schien, das habe ich weggeschoben. Oder leicht verlegen meinen Freundinnen erzählt und dabei gleich wieder relativiert à la „wird sich sicher noch geben“. Rückblickend war am auffälligsten, dass Jim mit ungefähr 1,5 Jahren aufhörte, überhaupt irgendwelche Töne von sich zu geben. Aber hey, alle Freundinnen beruhigten mich damit, dass mir zumindest nicht die Ohren bluteten, sie könnten die andauernden Mama-Rufe schon nicht mehr hören. Außerdem gab es ja da auch die vielen Geschichten von dem Cousin fünften Grades, der erst mit fünf Jahren angefangen hatte zu sprechen, dafür gleich in Schachtelsätzen; oder von einer entfernten Freundin der Schwägerin, die dann angefangen hatte zu sprechen, als die Eltern sie zwangen, indem sie nur dann reagierten, wenn das Mädchen sprach. Ich habe hunderte dieser Geschichten erzählt bekommen. Sie sollte beruhigen. Und hatten immer auch einen seltsamen Beigeschmack, als wäre man hysterisch, denn JEDES Kind lernt schließlich irgendwann sprechen. Es sei denn es ist stumm. Und das wäre Jim ja wohl sicher nicht. An seinem zweiten Geburtstag war ich mir sicher: jetzt platzt der Knoten, eines Tages wird er Mama sagen. Ich würde noch weitere eineinhalb Jahre warten müssen.
Wenn ich eins nicht mehr hören kann, dann ist es: „Ach, mach Dir keine Sorgen, das kommt schon noch. Er ist doch fröhlich, nur eben ein bißchen faul.“ Ich weiß, es ist lieb gemeint und wird meistens aus reiner Verunsicherung gesagt, aber bitte: wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihr Kind anders funktioniert und nicht in der Norm ist und das mitteilen, dann ist das eine Art Hilfeschrei, das kann man nicht klein reden. Es ist eh schon nicht leicht, so eine Beobachtung auszusprechen. Give them some grace!
Der Beginn der Odyssee
Die ersten, die uns auf Jims Entwicklung angesprochen haben, waren Jims Pädagoginnen im Kindergarten. Ihnen war aufgefallen, dass sich Jim in einigen Situationen nicht ganz altersgerecht verhielt. Das hatte uns zwar in unserer Vermutung bestätigt, aber so richtig aktiv sind wir damals noch nicht geworden. Wir hatten wohl einfach die Hoffnung, das würde sich von alleine geben. Mit zweieinhalb Jahren war Jim krank. Einfach richtig anständig erkältet. Wir sind zum Kinderarzt gegangen. Auf die Frage, ob Jim irgendwas wehtut, konnte ich nicht antworten, denn Jim konnte es mir ja nicht mitteilen. Der Kinderarzt schaute mich ganz verwundert an, denn dass ein Zweieinhalbjähriger nicht zeigen kann, wo sein Aua ist, das sei doch sehr ungewöhnlich. Mit diesem Arztbesuch begann die Odyssee.
Und plötzlich bestimmte unser Kind doch unseren Alltag, der sich nicht besonders vom Alltag anderer Eltern unterscheidet, aber eben irgendwie doch.