
Jetzt ist gut
Jim war ein unglaublich genügsames Baby. Pausbackig, proper und fröhlich. Er hat es uns leicht gemacht. Überall konnten wir ihn mitnehmen. Er hat geschlafen wie ein Profi, und wenn er wach war, war er vor allem gut gelaunt. Mit großen, blauen Augen hat er die Welt beobachtet und alle waren ganz verliebt in seine langen Wimpern. Zu Recht!
Ich konnte mich nicht sattsehen an diesem wonnepropigen Kind und dachte immer wieder: „Ach, wenn er doch nur immer so klein bleiben könnte!“. Wenn er gemütlich eingeschlafen war. Oder glucksend dem Hund beim Spielen zusah. Wenn er einen Gehversuch startete und auf seinem Windelhintern landete. Wenn ihm bei seiner Gute-Nacht-Milch die Augen zufielen.
Die ersten zwei Jahre
Mit 15 Monaten legte er sein liebstes Hobby (sitzen!) ab. Dann konnte er auf einmal laufen. Und ich war völlig verzückt von diesen tapsigen Schritten und ersten Kletterversuchen. Irgendwie fand ich auch ganz gut, mal wieder für ein paar Stunden beide Arme frei zu haben. Mit dem Laufen kam nämlich auch ein Stück Freiheit wieder. Nicht überall musste man dieses Kinderwagen-Monster mitschleppen. Aber Jim war noch nicht schnell genug, dass man sich Sorgen machen musste. Er konnte seinen Weg gehen und war trotzdem noch „greifbar“ für uns. Jetzt schaute er dem Hund nicht mehr nur zu, sondern konnte mitspielen. Seine großen, blauen Augen mit den langen Wimpern hatte er immer noch. Und die waren noch mindestens genauso neugierig. Er hat mit uns Restaurants und Kneipen unsicher gemacht und dort so manchen Brotvorrat vernichtet. Und manchmal auch dem Nachbartisch noch den Brotkorb geklaut. Wir hatten tolle Abende als Familie. Und jedes Mal dachte ich: „Ach, wenn er doch nur immer so klein bleiben könnte!“
Mini-Warnweste und Handy-Profi
Mit drei Jahren stand der erste Ausflug mit dem Kindergarten an. Da standen sie also, die Zwerge mit ihren Warnwesten und Rücksäcken, in Zweierreihen, Hand in Hand. Kein Mutterherz wird da nicht weich! Man hält die Rührung ja kaum aus. Und wird gleichzeitig ein bißchen panisch, weil man zum ersten Mal merkt, dass das eigene Kind selbständig wird. Das geht alles viel zu schnell! Kann mal bitte jemand die Uhr anhalten?? Plötzlich war Jim auch schon so groß, dass er an die Schokokekse kam. Er bediente sich einfach selbst. Nicht nur an den Keksen, auch an meinem Telefon. Er schaute mir einfach so lange auf die Finger, bis er den PIN auswendig konnte. Und dann ging’s ab: er stibitzte mein Handy, tippte den PIN ein, fand die YouTube-App und schaute ABC-Videos. Auf dem Spielplatz saß er oben auf der Rutsche und schaute in die Welt. Mit großen, blauen, neugierigen Augen. Dieser zufriedene Junge. Ach, wenn er doch nur immer so klein bleiben könnte!
Sorgenfrei
Wir haben Urlaube am Meer mit ihm gemacht und ihn dabei beobachtet, wie er den Horizont absuchte. Er hat ganz Belgien Pommes-leer gemacht und sich jeder italienischen Nonna auf den Schoß geschmissen. In Frankreich hat ein halber Ort auf ihn aufgepasst, damit wir mal in Ruhe in der Bar was trinken konnten. Er hat lange Autofahrten mit uns absolviert und dabei sicher hundert Mal „Robin Hood“ gesehen. Er ist in Restaurantküchen spaziert und hinter Bartresen verschwunden. Er hat mit seinen Cousins einen Berliner Park unsicher gemacht und die Männerrunde sichtlich genossen. Er hat stundenlang beim Berliner Opa im Arbeitszimmer am Fenster gestanden, Autos beobachtet und ihm Gesellschaft geleistet. Er hat der belgischen Omi immer mit allem die größte Freude gemacht. Er ist mit dem belgischen Opa Rasenmäher-Traktor gefahren und mit der Berliner Omi um die Wette barfuß über die spitzen Kiesel gelaufen. In Belgien ist sein Lieblingsplatz bei den Pferden, denen er Äpfel vom Baum pflückt. In Berlin ist die U-Bahn-Station sein place to be. In Italien sitzt er am liebsten mitten in der Wiese und schaut ins Nirgendwo. Völlig sorgenfrei, so wie es für Kinder richtig ist. und immer mit großen, blauen, neugierigen Augen. Jedesmal denke ich: „Ach, wenn er doch nur immer so klein bleiben könnte!“
Kind sein
Heute ist Jim viereinhalb Jahre alt. Und fängt an, mit uns verbal zu kommunizieren. Jeden Tag ein bißchen mehr. Auf seine Weise teilt er sich aktiv mit. Er singt mir Lieder aus dem Kindergarten vor und erzählt, wessen Geburtstag heute gefeiert wurde, Das ist toll! Toll ist auch, dass er eben ein Kind ist und sich auf nichts konzentrieren muss außer aufs Kindsein. Spielen, toben, lachen, entdecken. Ohne sich auch nur im Ansatz um irgendetwas Sorgen machen zu müssen. Was für eine großartige Zeit die Kindheit ist. Wie ein Wilder jagt er jetzt über den Spielplatz, schlägt sich die Knie auf und ist mächtig kerlig unterwegs. Aus dem gemütlichen Kleinkind ist ein wilder Junge geworden.
Kuscheln geht (fast) immer
Wir können Cars, Ratatouille und das Dschungelbuch auswendig mitsprechen, haben Wörter wie „Gleisschotterbettungsreinigungsmaschine“ von der Maus gelernt und freuen uns, wenn Jim bald mit uns MarioKart zockt. Bis dahin hören wir noch unzählige Male das Feuerwehrmann Sam-Hörspiel und üben das Aufsetzen vom Fahrradhelm und Anziehen von neuer Kleidung. Wenn wir unterwegs sind, ist die Mama nicht mehr „in“, sondern Spiderman oder Lightning McQueen. Aber wenn keiner schaut, abends zuhause, schauen mich diese großen, blauen Augen an und sagen „KUSCHELN“! Dann schauen wir noch ein oder zwei Folgen Feuerwehrmann Sam mehr an als sonst, damit ich länger kuscheln kann. Das ist der Moment des paradoxen Gefühls von „kann das Kind jetzt bitte endlich mal ins Bett gehen, ich brauch ne Pause“ und „ach, wenn er doch nur immer so klein bleiben könnte“. Wenn Jim dann im Bett liegt, sage ich Gute Nacht und „ich hab Dich lieb, mein Schatz!“. Und Jim antwortet: „iii hab dii liieb, ma Schaa!“.
Seit viereinhalb Jahren möchte ich die Zeit anhalten. Es geht mir alles viel zu schnell. Und gleichzeitig ist es so toll, weil heute so viel möglich ist, was vor ein, zwei Jahren noch undenkbar war. Und umgekehrt. Meine Schwester ist mir ein paar Jahre voraus bei diesem Eltern-Ding. Als ich vor einiger Zeit mal am Telefon wieder einen dieser „Ach, wenn er doch nur immer so klein bleiben könnte“-Momente hatte, sagte sie: „Weißt Du, Schwesti, die beste Zeit ist immer JETZT!“ Das ist Fakt. Auch wenn’s mal ein holpriger Tag war.