Nach dem ernüchternden Termin bei der Autistenhilfe waren wir planlos. Jim ging weiter fröhlich zur Logopädie und Ergotherapie und machte auch durchaus Fortschritte. Wir konnten trotzdem nicht von der Hand weisen, dass der Entwicklungsunterschied zwischen ihm und Gleichaltrigen da war. Zum einen sprachlich, aber auch im Verhalten.
Die Monate plätscherten dahin. Viele „wir sollten jetzt wirklich mal…“ und „lass uns das mal angehen“ später war es ein Satz von Jims Logopäden, der uns wieder in Bewegung setzte. Nach einer Therapiestunde sagte er: „Ich stoße an meine therapeutischen Grenzen, ich weiß nicht recht, wo ich noch ansetzen soll“. Hä? Okay! Wenn der Therapeut im Trüben fischte, dann mussten wir WIRKLICH was tun! Eine Freundin, die Ärztin ist, versorgte uns mit einigen Adressen von PsychologInnen in Wien und ich startete den Rundruf. Irgendjemand würde hoffentlich in naher Zukunft einen Termin für uns haben. Einige Umwege später war auch tatsächlich eine Klinische Psychologin gefunden, die uns gleich zum Erstgespräch einlud. Wunderbar. Vollgepackt mit all den Nicht-Befunden, Kindergarten-Evaluierungen, Therapie-Verlaufsberichten, Mutter-Kind-Pass und allem was sonst noch interessant sein könnte, zogen wir los, um zum x-ten Mal unsere Geschichte zu erzählen, in der Hoffnung, dass sie das Buch mit sieben Siegeln öffnen würde. Es war ein gutes Erstgespräch und wir waren uns schnell einig, dass sie mit Jim die Autismusdiagnostik durchführen würde. Und zwar noch in diesem Jahr, ohne Wartezeit. Halleluja!!! Ja, ist denn heute schon Weihnachten?
Spielen, testen, spielen, testen
Das Verfahren umfasste fünf Termine, zehn Tests und gefühlte 5.000 Seiten Elternfragebögen. Darunter eine Verhaltensbeobachtung, die Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit (fancy Name für Intelligenztest), die Untersuchung der neuropsychologischen Funktionen, die Untersuchung der psychosozialen Entwicklung, die Untersuchung autismusspezifischer Symptome, der ADOS II (Autism Diagnostic Observation Schedule) und ein autismusdiagnostisches Elterninterview. Klingt erstmal alles wahnsinnig kompliziert und ist es sicher auch in der Auswertung. Für Jim bedeutete es vor allem: spielen, spielen, spielen! Da wurde gepuzzelt, gemalt, getobt, zugeordnet, entdeckt, gebaut und viel gelobt. Bis auf den ersten Termin war Jim während der Tests mit der Psychologin alleine. Wir haben es insgesamt als sehr stressfrei für Jim empfunden, was sicher auch an dem Chamäleon lag, das dort im Therapiezentrum lebt und erstaunlich beruhigend auf Kinder (und Eltern!) wirkt.
Als besonders positiv habe ich in Erinnerung, dass die Psychologin zwischendurch auch für mich ein offenes Ohr hatte und mich daran erinnert hat, dass ich meine Frustration nicht immer relativieren muss („ich weiß, bei anderen ist es viel schlimmer, wir haben es ja eigentlich gut, Jim ist ein entspannter Junge, ich sollte mich nicht beklagen…“). Die eigene Empfindung zuzulassen, muss man eben auch erst lernen. Unbewusst überkommt einen immer ein schlechtes Gewissen, wenn man jammert, schließlich können wir ja einen weitestgehend normalen Alltag leben, auch wenn er manchmal etwas anders aussieht.
Nachdem alle Tests abgeschlossen waren, bat sich die Psychologin ca. drei Wochen für die Auswertung und Befunderstellung aus. Wieder warten. Aber diesmal gab es wenigstens einen festgelegten Zeitrahmen. In den folgenden Wochen habe ich Stoßgebete abgelassen, auf alles Holz geklopft und bin schwarzen Katzen von rechts aus dem Weg gegangen. Bloß nichts riskieren, diesmal sollten die Sterne gut stehen. Toi toi toi! Nach genau zwei Wochen klingelte das Telefon. „Der klinisch-psychologische Befund ist fertig. Kommen Sie nächste Woche zur Befundbesprechung?“ Das kam so unerwartet schnell, dass ich nicht mal daran dachte zu fragen, was denn nun eigentlich der Befund war. In einer Woche würde sie also vor uns liegen: die Antwort. Endlich!
Das Ende einer langen Suche
Es war ein grauer, regnerischer Tag Ende Oktober. Eben einer dieser Tage, die unausweichlich den November ankündigen. Die Psychologin spannte uns nicht lange auf die Folter und bestätigte, was wir schon lange vermutet hatten. Jims offizielle Diagnose lautet: frühkindlicher Autismus. Unsere Reaktion? Wir waren dankbar, dass wir endlich eine Antwort hatten und diese schwarz auf weiß vor uns liegen hatten. Jetzt wußten wir wenigstens, womit wir es zu tun hatten. Trotzdem: damit sind wir nun also in einem Club, in den wir nie eintreten wollten.
Zu allererst: Autismus ist keine Krankheit im klassischen Sinn. Es ist eine tiefgreifende Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörung. Autismus heilt man nicht mit Medikamenten oder Therapien. Aber man kann mit gezielten Therapien die Symptome mildern und so die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten verbessern. Und es heißt auch eigentlich Autismusspektrumstörung (ASS). Genau der Zusatz „Spektrum“ ist so wichtig, denn die Ausprägung der ASS ist bei jedem unterschiedlich. Es gibt keine zwei Menschen mit ASS, die sich den gleichen Platz auf dem Spektrumsbogen teilen. Sicher, es gibt ganz schwere Formen, die Bilder hat man ja sofort im Kopf, wenn man das Wort „Autismus“ hört. Aber nicht jeder Mensch mit ASS wippt mit dem Körper, verletzt sich selbst oder ist Mathe-Genie.
Wer sich dafür genauer interessiert, kann sich für die nächsten Jahre durch Google-Ergebnisse wühlen, es gibt unendlich viel dazu. Zusammengefasst ist die Besonderheit des frühkindlichen Autismus, dass die Symptome vor dem 3. Lebensjahr auftreten. Betroffen sind vor allem die drei Bereiche soziale Interaktion (Andersartigkeit, kein Blickkontakt, „Einzelgänger“), Sprache (späte oder gar keine Sprachentwicklung) und Verhalten (stereotypes, repetitives Verhalten, Rituale). Diese drei Bereiche sind unterschiedlich stark betroffen. Dafür gibt es nun einen Therapieplan. Eine Prognose gibt es nicht. Wer kann schon in die Glaskugel schauen? Wir stehen noch ganz am Anfang, aber jedem Anfang wohnt bekanntlich auch ein Zauber inne.
Fast 2 Jahre waren wir auf der Suche nach einer Diagnose. Gewusst haben wir es schon lang, jetzt ist es bestätigt. Während der Odyssee haben wir viele andere Dinge ausschließen können, das war auch wichtig. Jetzt denke ich besonders oft an die Neurologin, als sie zu uns sagte: „Ganz gleich, was es am Ende ist, denken Sie daran: Jim ist nach dem Befund der gleiche Junge, der er vorher war.“ Sie hat Recht behalten.
Ich danke Dir!
💞
Wenn man endlich Gewissheit hat, hat man Gewissheit. Doch damit fängt man erst an zu verstehen, was los ist.
Ich wünsche euch ganz viel Kraft und eines ist sicher: “Jim wird geliebt und am Ende ist es nur das, was zählt. ”
Haltet zusammen und schenkt euch Zuneigung, Liebe und Geborgenheit. 😘
Das tun wir. Danke Dir!! ❤️