It takes a village …

It takes a village …

30/10/2020 8 Von Marison

… to raise a child, heißt es. Was aber, wenn Dein Village leer bleibt, keinen Zuzug erfährt? Dann kannst Du entweder allein bleiben und hoffen, dass es sich ändert, oder Dich selbst in Bewegung setzen, um Dir Deine Gemeinschaft aufzubauen, die Du brauchst.

Diese Szenarien kennen sicher die meisten Eltern: Man schafft es nicht rechtzeitig zum Kindergarten, um das Kind abzuholen. Toll, dass die Eltern des besten Kindergartenfreundes das Kind gern mit abholen. Man trifft sich dann einfach auf dem Spielplatz. Alles kein Stress.Oder: Endlich mal wieder Date Night, ein Abend mit dem Liebsten. Schön essen gehen oder ins Theater. Super, Oma und Opa freuen sich schließlich immer, wenn sie ihren Enkel mal ganz für sich haben. Und der Enkel freut sich über die Extraration Schokolade. Macht euch einen schönen Abend!

Einmal Benutzerhandbuch bitte

Bei uns ist das alles nicht so einfach. Ja, wir haben uns bewusst für ein Leben in der Stadt entschieden. Damit einher geht auch eine gewisse Form der Anonymität. Da kennt man eben nicht jeden im Viertel. Die Kinder im Kindergarten werden zu den unterschiedlichsten Zeiten gebracht und abgeholt, selten trifft man dort vertraute Elterngesichter. Ich kenne wenige Eltern dort. Und von „kennen“ kann eigentlich auch keine Rede sein. Wir sind schließlich in der Stadt, da hat man es eilig. Da muss ein kurzes „hallo, sorry, wir müssen los“ reichen. Aus bekannten Gründen kann Jim mir auch nicht sagen, mit wem er gerade befreundet ist, das macht das aktive Ansprechen der Eltern auch irgendwie schwierig. Gut, da ist also niemand, der Jim mal mit abholen könnte, den ich anrufen könnte, wenn es wirklich mal eng wird. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir bin: wem würde ich Jim denn auch anvertrauen? Auf den ersten Blick wirkt Jim wie jeder andere Junge in seinem Alter. Tatsächlich steckt er voller Routinen, speziellen Abläufen und „coping mechanisms“. Die müsste ich ja erstmal in einem benutzerfreundlichen Handbuch aufzählen. Und dann hat er auch seine eigene Sprache, in die man sich reinhören muss. Selbst wir als seine Eltern verstehen oft nicht, was er mitteilen möchte. Wie würde es jemandem gehen, der nicht andauernd Kontakt hat zu Jim? Vielleicht traue ich anderen da zu wenig zu. Vielleicht kommt da in mir die Helikoptermutter raus. Vielleicht sollte ich es einfach drauf ankommen lassen. Vielleicht schützt es ihn aber auch vor dem Meltdown, der – anders als ein Trotzanfall – eine tatsächlich existenziell bedrohliche Situation für ihn ist.

Dann ist da die Sache mit der Date Night. Einfach mal wieder einen Abend zu zweit verbringen. Paar sein. Macht man ja als Eltern eh viel zu selten. In unserem Fall sind die Großeltern einfach nicht in der Nähe. Damit sind wir nicht allein, geht anderen auch so. Dann eben ein Babysitter, denkst Du jetzt wahrscheinlich, machen schließlich alle anderen auch so. Klar, würden wir ja auch gern. Aber lies nochmal den Absatz davor. Allein die Abendroutine bei uns zuhause, die jeden Abend zu 100% gleich ablaufen muss (sonst geht hier der Punk ab!), würde Seiten füllen.

Jims Team

So ganz natürlich füllt sich unser „village“ nicht. Wir merken, dass wir immer wieder an unsere Grenzen stoßen und in manchen Dingen einfach auch Hilfe brauchen. Also haben wir beschlossen, unsere Gemeinschaft selbst aktiv aufzubauen. Wir nennen sie Jims Team. Da sind zu allererst Jims fantastische Pädagoginnen im Kindergarten. Wirklich, Jackpot! Sie sind unglaublich engagiert, freuen sich mit uns über jeden neuen Laut, sind offen für Gespräche mit den Therapeutinnen, machen Einzelübungen mit ihm (wenn es die Zeit erlaubt) und geben alles, um Jim in den Kindergartenalltag bestmöglich zu integrieren. Dann sind da auch Jims Logopädin und die Ergotherapeutin, die seit 1,5 Jahren jede Woche mit ihm arbeiten. Die sich regelmäßig mit uns und dem Kindergarten austauschen, wertvolle Hilfestellung geben und für Jim mittlerweile ein fester Bestandteil seiner Woche geworden sind.

Relativ neu im Team ist die Psychologin, die zunächst dabei ist, eine Diagnose zu stellen, damit wir wissen, womit wir es zu tun haben und welche Therapieschritte wirklich helfen. Es Jim und Bobwar uns wichtig, sie ins Boot zu holen, denn sie sieht das große Ganze. Sowohl Logopädin als auch Ergotherapeutin diagnostizieren ja nicht und können auch immer nur in ihrem Bereich Hilfestellung leisten. Die Psychologin ist diejenige, die die Zügel in die Hand nimmt und mit den Therapeutinnen und dem Kindergarten den wirkungsvollsten Behandlungsplan zusammenstellt, damit Jim maximal davon profitieren kann. Dann gibt es noch uns Eltern, wir sind natürlich auch Teil des unmittelbaren Teams. Denn auch wir müssen ganz aktiv im Alltag dazu beitragen, dass Jim weiterkommt. Die Hilfe der Professionisten ist für uns dabei wichtig und nötig. Nicht zu vergessen: Bob, der beste aller Hunde und wohl auch der geduldigste. 

Jedes Team braucht auch Cheerleader und Fans. Das übernehmen unsere Familien und engen Freunde. Sie feuern uns an, freuen sich über jeden noch so kleinen Entwicklungsschritt, lassen uns den Frust von der Seele reden und – vor allem – lieben Jim genauso wie er ist. Vielleicht übernehmen sie sogar den wichtigsten Part in diesem Marathonlauf: sie sind im Hintergrund einfach da, zumindest im Gefühl und in Gedanken, wenn es räumlich schon nicht geht. Sie haben keine Erwartung, hier muss niemand performen. Jim ist einfach Jim für sie. Das ist Gold wert!