Inklusion – Ein frommer Wunsch

Inklusion – Ein frommer Wunsch

18/10/2021 0 Von Marison

Lange habe ich überlegt, ob ich zu diesem Thema etwas schreiben möchte und kann. Ich bin sicher keine Expertin auf dem Gebiet und auch nicht frei von Fehlern. Je älter Jim wird, desto stärker fällt mir allerdings auf, wie weit wir als Gesellschaft wirklich noch von Inklusion entfernt sind. Der Gedanke lässt mich auch beschämt zurück, denn vor Jims Diagnose habe ich auch wenig darüber nachgedacht. Ich bin ganz sicher: die meisten Menschen, die nicht direkt betroffen sind, beschäftigen sich kaum bis gar nicht mit Inklusion. Vielleicht muss man eben doch lauter darüber sprechen, damit alle es hören. Und damit Inklusion nicht nur eine Worthülse bleibt.

Inklusion vs. Integration

„Is’ ja toll, dass Jim in einen Regelkindergarten gehen kann. Vielleicht wird er ja auch auf eine „normale“ Schule gehen!“ – das höre ich oft. Es soll mir sagen: schau, es wird ja gar kein Unterschied gemacht zwischen behinderten und nicht-behinderten Kindern. In Wirklichkeit zeigt es, dass der Unterschied zwischen Integration und Inklusion nicht verstanden wurde. Ja, Jim ist toll integriert im Kindergarten. Und meinetwegen auch beim Turnen und auf dem Spielplatz. Aber mit Inklusion hat das noch nicht viel zu tun.

Vielleicht ist eine Begriffserklärung hier notwendig für all die, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben: „(…) Das Konzept der Integration nimmt also bewusst Unterschiede wahr und verlangt vom Einzelnen, dass er sich an das Mehrheitssystem anpasst, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Inklusion dagegen ordnet unterschiedliche individuelle Eigenschaften und Voraussetzungen nicht auf einer Werteskala, sondern betrachtet die Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft als grundlegend und selbstverständlich. Hier muss sich nicht der Einzelne dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet sein, dass sie jedem Einzelnen Teilhabe ermöglichen.“ (Quelle: http://www.inklusion-schule.info/inklusion/integration-und-inklusion.html)

Im Kindergarten hält Jim sich an die Gruppenregeln, er hat sich dort angepasst. Beim Turnen macht er die Übungen, die alle machen, soweit er kann nach. Auf dem Spielplatz „stört“ er nicht, solange er die anderen Kinder ihr Spiel spielen lässt. Das Spiel wird nicht an ihn angepasst. Manchmal wird pausiert, wenn Jim den Spielablauf durcheinander bringt. Integration.

Vor der eigenen Haustür kehren

Vielleicht trage ich auch eine Teilschuld, dass Jim „nur“ integriert ist. Ich lasse mal kurz Selbstreflexion walten und kehre auch vor der eigenen Haustür (RW): Durch unseren offenen Umgang mit Autismus haben wir Jim ein Label aufgeklebt, das für alle sichtbar ist und ihn in einem sozialen Gefüge wie dem Kindergarten eben zu einer eigenen Gruppe macht. Dieser offene Umgang ist auch aus Selbstschutz entstanden. Eine schnelle Antwort auf die vielen Fragen. Eine knackige Erklärung für Verhaltensweisen. Eine Abkürzung für unangenehme Gespräche. Ich würde es wahrscheinlich immer wieder so machen. Trotzdem frage ich mich manchmal, ob es klug und richtig war. Ob ich Jim damit einen Gefallen getan habe. Die Alternative, nämlich einfach nichts zu sagen, hätte sich für mich aber auch falsch angefühlt. 

Jim SpielplatzJe älter Jim wird, desto offensichtlicher wird für mich der Unterschied zwischen Inklusion und Integration. In dem Alter, in dem Kinder sich eh noch nicht wirklich miteinander beschäftigen, sondern nebeneinander her spielen, fällt es noch nicht so auf. Aber mit fünf Jahren entstehen Cliquen, Freundschaften. Jim ist hier außen vor. Er steht am Rand, während Verabredungen ausgemacht werden. Ob es ihm wichtig ist, ihm fehlt, wissen wir nicht. Aber das spielt auch keine Rolle. Fakt ist, dass es für ihn keinen Zugang gibt, solange er das nicht für sich selbst artikulieren oder anders ausdrücken kann. 

Die Herausforderungen gibt es nicht nur im sozialen Gefüge. Wer für ein neurodiverses Kind mal einen Platz in einem Verein gesucht hat, weiß jetzt was ich meine. Die meisten Kindergruppen sind einfach nicht darauf ausgelegt. Ich habe zwar eine Turnstunde für Jim gefunden und er geht auch gern dorthin. Das geht aber auch nur, weil Jim sich relativ gut anpassen kann. Wäre zum Beispiel meine Anwesenheit für Jim nötig, hätte er dort auch keinen Platz bekommen. Ist doch Wahnsinn! Sollen etwa alle Kinder, die nicht auf der Ideallinie der Entwicklungspläne marschieren, zuhause bleiben und in die Luft schauen?

Natürlich seid ihr willkommen

Ich bin in einer Kindergarten-Eltern-WhatsApp-Gruppe. Hier werden u.a. Events für die Kinder geplant, jetzt zum Beispiel zu Halloween. Ich weiß, dass Jim und ich willkommen sind. Ich bin mir sicher, dass sich alle fragen, warum wir so gut wie nie am Start sind. Es ist einfach erklärt: weil wir zwar willkommen sind, aber nur solange wir uns an das bestehende System anpassen. Und solange ich damit zurecht komme, dass alle Kinder mir erzählen: „Duuuu, Jim spricht immer alles nach, was ich sage. Ich will das nicht, das nervt!“. Kindermund tut Wahrheit kund.  Ich kann mit Jim nicht im Dunkeln in einen Park gehen, denn Jim hat kein (oder sehr wenig) Risikobewusstsein. Die Sorge, er könnte plötzlich auf die Straße rennen oder sich im Park verlaufen und dann nicht auf seinen Namen reagieren, ist größer als die Lust auf ein Halloween-Event. Und ich bringe es auch nicht übers Herz zu fragen, ob das ganze einfach früher stattfinden kann, bevor es dunkel wird, das fänden die anderen Kinder wahrscheinlich enttäuschend. Es soll ja auch ein bißchen gruselig sein. Vielleicht machen wir einfach was anderes. Oder gar nichts. Eigentlich haben wir mit Halloween ja auch nichts am Hut.

Mehr als nur eine Einladung zur Geburtstagsparty

Inklusion ist kein Konzept, dass Politiker über uns drüber stülpen können. Sie muss gelebt werden. Und das fängt im kleinen privaten Kreis an. Inklusion bedeutet nicht, Jim zum Kindergeburtstag einzuladen (obwohl das auch schön wäre!), sondern einen change of mindset. Das Ende vom Label-Denken, von „normal“ vs. „besonders“. Vielmehr: die Überzeugung und Gewissheit, dass eine vielfältige Gesellschaft gut und richtig ist. 

Ich erzähle hier von Kindergarten und Spielplatz. Von den Dingen, die einem Fünfjährigen wichtig sind. Natürlich geht Inklusion weit darüber hinaus. Und betrifft auch nicht nur Kinder, sondern Erwachsene gleichermaßen. In allen Lebensbereichen. Das Thema ist so umfangreich, ein Blogartikel kann der Sache nicht gerecht werden. Allein mit dem Thema Barrierefreiheit könnte man wahrscheinlich das Internet sprengen.  

Jim PinguinZum Schluß ein frommer Wunsch aus meiner Sicht als Mutter eines neurodiversen Kindes: ich kämpfe viel, damit Jim zu seinem Recht und zu Unterstützung kommt. Mein Job ist nicht, anderen zu erklären, wie Inklusion funktioniert, dafür fehlt auch einfach die Kraft. Ich kann nur an die Eigenverantwortung appellieren. Mein Wunsch ist, dass die Kraft, die ich bis jetzt investiert habe (a.k.a. die Offenheit, der Elternbrief etc.) nicht nur wahrgenommen und in die mentale Ablage gelegt wird, sondern sich in Form von Handlung niederschlägt. Long story short: die Halloween-Party ist nicht dann ein Erfolg, wenn dein Kind es cool findet, sondern wenn alle Kinder die Möglichkeit haben, sicher dabei zu sein. Lass das mal wirken.