Immer diese Gefühle

Immer diese Gefühle

26/02/2021 0 Von Marison

Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass Menschen mit einer Autismusspektrumstörung gefühllos seien. Anscheinend haben viele ein Bild von roboterartigen Menschen im Kopf, die rein mechanisch durch ihren Alltag marschieren, so als wären sie von jeder Emotion befreit. Es gibt internationale Schätzungen, die sagen, dass ca. 1% der Bevölkerung eines Landes von Autismus betroffen ist. In Österreich wären das also rund 88.000 Menschen. Eine beachtliche Zahl! Wenn man den Irrglauben des emotionslosen Autisten jetzt hernimmt, dann hieße das ja, dass 88.000 völlig emotionsfreie Menschen unter uns wären. Der ein oder andere wäre mir vielleicht begegnet. Ist aber nicht. Denn: natürlich haben Menschen mit ASS auch Gefühle. Warum auch nicht?

Rumpelstilzchen

Es gilt: kennst Du einen Autisten, kennst Du eben nur einen Autisten. Ich kann nicht für alle Menschen mit Autismus sprechen, sondern wieder nur von Jim erzählen. Jim zeigt seine Jim MorgenmuffelGefühle sehr deutlich. Man erkennt sofort, ob er traurig, wütend, frustriert oder richtig gut gelaunt ist. Seine Mimik spielt mit, sein Ton ist entsprechend, sein ganzes Verhalten legt seine Gefühlswelt offen. Das ist toll für uns, denn so müssen wir nicht Rätsel raten. Oft übermannen ihn seine Gefühle aber auch und er weiß nicht recht, wie er sie verarbeiten kann. Es kommt durchaus vor, dass Jim mich mal haut oder tritt, wenn er richtig wütend ist. Nicht weil er schlecht erzogen oder aggressiv ist, sondern weil er nicht weiß, wie er die Wut ableiten kann. Und da meistens ich in der Nähe bin, bekomme ich das ab. Er ist erst vier, ich kann mich also noch gut schützen. Aber auch Jim wird älter, größer und stärker, weshalb es so wichtig ist, mit ihm Mechanismen zu üben, die ihm erlauben, die Energie anders loszuwerden. Bei Wut üben wir: ins Kissen hauen oder auf den Boden stampfen. So stehen wir manchmal wie zwei Rumpelstilzchen da und stampfen was das Zeug hält. Jim lernt dadurch, die Emotion mit einer Reaktion zu verbinden und dabei weder sich selbst noch anderen wehzutun. Leichter ist es, wenn Jim gut drauf oder traurig ist. Da kommt die Reaktion ganz von allein: es wird gelacht oder geweint.

Warum weinst Du?

Was für Jim noch nicht wirklich verständlich ist, sind die Emotionen anderer. Die kann er nicht gut deuten, bzw. es fällt ihm schwer den Gesichtsausdruck zu interpretieren. Im Jim Pizzavergangenen Jahr gab es sehr traurige Momente für uns. Für Jim war spürbar, dass etwas anders ist als sonst, aber er konnte nicht einordnen, was es war. Wenn Eltern weinen, fragen Kinder oft nach. Jim konnte das nicht, und so hat er – aus Verzweiflung oder Verlegenheit oder… – die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, indem er zum Beispiel gekitzelt werden wollte. Ich bin ein sehr emotionaler Mensch, Emotion ist mein zweiter Vorname. Schon immer, aber seit der Schwangerschaft extrem. Ich bin sehr nah am Wasser gebaut. Bei jedem noch so stumpfen Film finde ich mit Sicherheit die kleine schnulzige Sequenz zum Weinen, in der Oper laufen die Tränen schon, wenn der Dirigent den Auftakt zur Ouvertüre gibt. Im Heulen bin ich Profi. Aber auch im Freuen. Wenn ich mich für etwas begeistern kann, dann richtig. Dann bin ich head over heels aufgeregt und allerbester Laune. Und morgens? Da bin ich unfassbar muffelig und nicht ansprechbar. Für Jim ist das alles wahrscheinlich ganz gut, denn meine Gefühle lassen sich hervorragend erkennen und differenzieren.

Wütender Ochse, lachender Affe

Damit Jim lernt, die Gefühle anderer zu deuten, üben wir das mit ihm. Das geht im ersten Schritt wunderbar mit Kinderbüchern und Comics: jeder Gesichtsausdruck wird mit der Geschichte erklärt. Der Affe lacht, der Hase ist traurig, der Ochse ist wütend, die Maus ist fröhlich und – natürlich: Bobo ist müde. Nun sind diese zustände in Kinderbüchern und Comics sehr überzogen dargestellt. Im realen Leben aber lachen wir ja selten so, dass uns links und rechts die Freudentränen im hohen Bogen aus den Augen schießen. Die wenigsten Menschen laufen auch tiefrot an und fletschen die Zähne, wenn sie wütend sind. Sobald Jim das in den Büchern richtig zuordnen kann, gehen wir einen Schritt weiter und üben vor dem Spiegel, gehen also von der überzogenen Darstellung zur realistischen. Da lachen wir, runzeln die Stirn, ziehen die Mundwinkel nach unten, knurren wütend und und und. Wer sich noch an Wer ist eigentlich dieser Ich? erinnert, weiß, dass Jim auch den Ich-Bezug lernt. Ist er traurig und weint, dann nehme ich seine Hand, wir klopfen ihm auf die Brust und sagen „ich bin traurig“. So bringen wir Emotion, Mimik und Aussage zusammen.

Jim müde

Jim und MamaBis jetzt gibt es bei Jim drei Emotionen: lachen, böse und traurig sein. Die kann er aus dem Effeff deuten und unterscheiden. Bei uns ist also alles immer lustig, böse oder traurig. Ein guter Anfang. Und dann gibt es noch „Jim ist müde“. Das bedeutet aber nicht, dass Jim müde ist, sondern dass ihm etwas nicht passt oder – meistens: dass ich mal bitte den Mund halten soll. Kein Witz. Wenn ich ihm mal wieder das Ohr abkaue, schaut er mich erschöpft an und sagt: „Mama, Jim müde.“ Some attitude, junger Mann. Dann klopfe ich mir auf die Brust und antworte: „Okay, ich bin jetzt ruhig.“