Ich sehe was, was Du nicht siehst

Ich sehe was, was Du nicht siehst

02/11/2020 2 Von Marison

Kinder sind Überlebenskünstler. Schon unmittelbar nach der Geburt kommen sie durch Schreien meist zum gewünschten Ziel. Zugegeben, die Bedürfnisse sind da noch recht überschaubar: die Windel ist voll, sie haben Bauchweh, sie sind müde oder haben Hunger. Ist der Bedarf gedeckt und es besteht keine existenzielle Krise mehr, sind sie entspannt. Und die Eltern auch.

Sobald Kinder in das Alter kommen, in dem Schreien nichts mehr bringt oder das Gegenteil bewirkt („wenn Du weiterschreist, dann bekommst Du gar nichts!“), ändern sie ihre Taktik. Clever. Sie äußern ihre Wünsche einfach konkret oder erweisen sich als Vollprofis im Verhandeln. Hilft das nicht, dann setzen sie das berühmte Wimpernklimpern als ziemlich effektive Waffe ein. Das zieht relativ lang. Wenn selbst der Engelsblick nichts mehr bewirkt, dann sind sie auch keine Kinder mehr. Dann sind sie erwachsen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Rotes Auto, schwarzer Hund, weißes Taschentuch

Zurück zum Wünsche äußern. Jim hat Wünsche und Bedürfnisse wie die meisten Vierjährigen. Nur kann er sie uns nicht so einfach mitteilen. Verhandeln ist auch schwer, wenn die sprachliche Grundlage fehlt. Um zu verstehen, wie Jim sich mitteilt, muss man wissen: es gibt Wortgruppen, die er durchaus beherrscht und deren Bedeutung er auch versteht. Da gibt es die Tiere: die kennt er alle, von Ameise bis Zebra, und kann sie auch richtig benennen. Dann gibt es die Fahrzeuge: Auto, Bus, Taxi (der Favorit!), Rettung, Polizeiauto, Müllauto und alles, was sonst noch motorisiert unterwegs ist. An der richtigen Aussprache arbeiten wir noch, aber das ist zweitrangig. Und dann kann er wirklich alle Farben des buntesten Regenbogens aufsagen. Nur „blau“ ist und bleibt „ngaa“. Die Wortgruppen kann Jim auch miteinander verbinden, z.B. rotes Auto oder schwarzer Hund. Über Fahrzeuge, Tiere und Farben hinaus gibt es natürlich noch einige andere Wörter, die er sagen kann und die für ihn überlebenswichtig sind. Allen voran: Schokokeks! Mit dieser Voraussetzung hat Jim sich eine wirklich smarte Strategie zurecht gelegt, um uns klarzumachen, was er gerade braucht oder möchte. Ich muss zugeben, dass ich einige Wochen gebraucht habe, um die Strategie zu verstehen. Aber jetzt erscheint sie mir logisch und ich bin jedes Mal aufs Neue fasziniert, dass er allein darauf gekommen ist und nicht aufgegeben hat, bis wir endlich auf den Trichter kamen. Bei mir hat es in einer Ausnahmesituation klick gemacht. Jim rutschte aus einem klassischen Trotzanfall in einen handfesten Meltdown. Der Unterschied zwischen Trotzanfall und Meltdown ist, dass ein TaschentuchMeltdown nicht durch Wunscherfüllung zu regeln ist. Es ist ein totaler Ausnahmezustand, eine existenzielle Bedrohung, fight or flight. Vielleicht am ehesten mit einer heftigen Panikattacke vergleichbar. Jim hat seinen eigenen Beruhigungsmechanismus bei diesen Meltdowns. Meistens schreit er wahllos alle Wörter, die er kennt, manchmal zählt er wie besessen. Das beruhigt ihn. An diesem Tag dauerte der Meltdown eine gefühlte Ewigkeit, wahrscheinlich eine Stunde. Nachdem er seinen gesamten Wortschatz zigmal aufgesagt (oder gebrüllt) hatte, schaute er mich an und schrie „weiß weiß weiß weiß weiß“. Das ging erstmal an mir vorbei, man stellt da auf Durchzug. Also habe ich weiter das gemacht, was man halt macht in so einer Situation: Bärenumarmung, Kind erden, tief atmen, das volle Programm. Nichts half. Ich glaube, Jim ist es mit der Zeit einfach zu blöd geworden, dass ich es schlicht und ergreifend nicht kapierte. Also schälte er sich aus meiner Umarmung, lief schluchzend in die Küche, schnappte sich die Küchenrolle, riss ein Blatt ab, zeigte es mir, schrie „weiß“ und trocknete sich die Tränen. Oh man, ich Trottel. Klar! Das weiße Taschentuch!

Wenn nichts hilft, hilft Farbe im Leben

Diese Strategie ist natürlich nicht immer alltagstauglich. In unserem Haushalt gibt es relativ viele weiße Gegenstände. Nicht immer meint Jim das Taschentuch. Mit „schwarz“ ist meistens der Fernseher gemeint, kann aber auch die Batterieabdeckung der Hot Wheels Rennbahn sein, die ich aufmachen soll, um die Batterie wieder einzulegen, die ich abends entfernt hatte (unsere Nachbarn verdienen es nicht, am Sonntagmorgen um 7 Uhr in der Eau Rouge aufzuwachen). Am längsten habe ich bei „grün“ gebraucht. Das ist nämlich der Einschaltknopf auf der Fernbedienung des Fernsehers. Darauf muss man auch erstmal kommen. Mehrmals am Tag spielen wir so unsere eigene Version von „Ich sehe was, was Du nicht siehst“.

Für Jim sind die Farben im Moment eine wunderbare Möglichkeit, um uns seine Bedürfnisse verständlich zu machen. Für uns ist es ein gutes Hilfsmittel, um Zusammenbrüche abzuwenden und ihn weiter beim Sprechen zu ermutigen. Der nächste Schritt ist, mit ihm zu erarbeiten, dass dieses eine Taschentuch zwar weiß ist, aber nicht „weiß“ heißt. Es kann schließlich auch blau, rosa oder grün sein, bleibt aber ein Taschentuch. Da liegt noch ein Weg vor uns, aber die Straße ist frei. Ich bin immer wieder fasziniert von Jims Willensstärke und der Transferleistung, die sein kleiner Kopf da abliefert. Und wenn ich mich mal wieder stur stelle und so tue, als würde ich ihn nicht verstehen, dann drückt er mir einfach die Packung mit den Schokokeksen in die Hand und klimpert mit den Wimpern. Kinder sind eben Überlebenskünstler.