Heiliger (Pflege-)Gral
Das hier ist kein Beschwerdetext. Wirklich nicht. Es ist vielmehr die Beschreibung einer solchen Absurdität, dass man es eine Posse nennen könnte. Ich lebe wirklich gern in Wien. Trotzdem würde es der Stadt in manchen Dingen guttun, mal aus dem Walzertakt zu kommen und die plüschige Sisi-Romantik abzuschütteln. Einfach mal im Heute ankommen. Vielleicht würde ich mich dann weniger wie eine Hofnärrin fühlen, die ihren Spross zum Vortanzen mitnimmt, um dann ziemlich unsanft auf dem Boden der Tatsachen aufzuschlagen. Nämlich dann, wenn die Obrigkeiten verlauten lassen, dass man mal wieder „zu gut“ war und deshalb nicht am Hof aufgenommen wird. Tough luck.
Die Suche nach Bestätigung
Es ist die Geschichte von unserem Antrag auf einen Pflegegrad für Jim. Oder wie ich es nenne: die Suche nach dem Heiligen Pflege-Gral. Die Legende sagt, dass Ritter nach dem Heiligen Gral suchten, um Erlösung zu finden. Mir geht’s da ähnlich. Nur dass ich nicht nach Erlösung suche (weshalb auch?), sondern nach Unterstützung. Und nach Bestätigung.
Anfang 2022 hatten wir einen Versuch gestartet und den ersten Antrag gestellt. Die Ablehnung kam postwendend. Jim war nach Aussage der Amtsärztin einfach „zu gut“. Überhaupt war sie nicht glücklich mit dem Diagnosebericht („gehen Sie lieber zu Frau XY, die schreibt immer so schöne Berichte!“). Und das Kind, das schon beim Wort „Arzt“ in totale Ablehnungshaltung verfällt, war – natürlich – beim Termin so kooperativ wie noch nie zuvor. Das Ende vom Lied war das Schreiben mit der Ablehnung des Antrags. Zu gut.
Der zweite Anlauf
Den zweiten Antrag haben wir im Herbst gestellt. Und diesmal auch bei der „richtigen“ Psychologin einen neuen Befundbericht verfassen lassen. Sie diagnostizierte neben Autismus auch ADHS und war sich ziemlich sicher, dass es klappen würde mit dem Pflegegrad, aber sie habe da ja „keine Aktien drin“. Einigermaßen siegessicher habe ich also den Antrag nochmal auf die Reise geschickt. Ich will euch nicht mit Details langweilen, deshalb: unmittelbar vor Weihnachten bekamen wir erneut eine Ablehnung, weil wir – laut Einschätzung der Amtsärztin – nur auf 43 von mind. 65 Minuten Pflegeaufwand am Tag kommen. Haha hahaaa!
Deutschland vs. Österreich
Dazu muss man jetzt wissen, dass die Kriterien für einen Pflegegrad in Österreich anders sind als in Deutschland. Ich weiß, dass man auf Online-Rechner nicht unbedingt viel geben muss, aber der deutsche Pflegerechner hat nach meinen Angaben einen PG3 ausgespuckt. Ob man das dann auch zugesprochen bekommt, steht auf einem anderen Blatt. In Österreich – grob gesagt – ist ein Kind anscheinend nur dann pflegebedürftig, wenn es um Nahrungsaufnahme, Hygiene oder Ankleiden geht. Alles, was gerade bei unsichtbaren Behinderungen einen erhöhten Aufwand darstellt, ist nicht relevant für die Berechnung. Ganz konkret geht es bei Kindern wie Jim also nur um folgende drei Fragen: Kann das Kind mit der Gabel essen? Kann sich das Kind mit Hilfe an- und ausziehen? Ist das Kind sauber und trocken? Zusätzlich bekommt man für Medikamentengabe noch ein paar Minuten pro Tag geschenkt.
Alles ganz normal
Nun stehe ich angehende Hofnärrin also vor der Ärztin und führe meinen Sohn vor. Ja, er kann mit der Gabel essen, aber beim Zubereiten mundgerechter Stücke braucht er viel Unterstützung. Augenrollen bei der Ärztin. Das sei aber doch „total normal“ in dem Alter. Ja, Jim kann sich mit Unterstützung an- und ausziehen, aber er braucht eben Hilfe. Augenzwinkern bei der Ärztin. „Was glauben Sie denn?! Kein sechsjähriges Kind kann sich ganz allein an- und ausziehen. Das ist total normal!“. Und ja, Jim ist sauber und trocken, aber… Schallendes Gelächter bei der Ärztin. „Ach, das ist aber nun WIRKLICH ganz normal.“ Überhaupt ist bei ihr alles ganz normal. Ich merke schon, die Performance ist nur mittelmäßig. Das wird nix.
Ich greife also noch mal ganz tief in die Trickkiste und baller die Ärztin voll mit all den Kriterien, die in Deutschland berücksichtigt werden. Ich erzähle ohne Punkt und Komma zum Thema Verhalten und psychische Problemlagen. Vom Zeitaufwand, den ich habe, wenn ich seit über drei Jahren alle drei bis vier Wochen bei Ärzten stehe, um Verordnungen und Rezepte zu organisieren, weil keine Langzeitverordnungen ausgestellt werden. Und ich berichte ausgiebig von den Herausforderungen in der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Von fehlendem Gefahrenbewusstsein, selektivem Essverhalten, Trennungsängsten, Schlafstörungen. Denn das ist ja der springende Punkt bei uns. Nicht die Nahrungsaufnahme. Bei jedem Punkt, den ich anbringe, ruckelt die Ärztin auf ihrem Thron hin und her, rollt mit den Augen (*laaaaangweilig*) und wedelt mit ihrem imaginären Zepter, um mir mitzuteilen, dass meine Bühnenzeit jetzt wirklich vorbei sei. „Wissen Sie“, wirft sie mir am Ende vor die Füße, „man muss ja auch nicht alles zum Problem machen. Das ist eben so mit Kindern, das geht allen Eltern so. Behandeln Sie ihn am besten ganz normal. Und – um Gottes Willen – beantragen Sie keinesfalls einen Behindertenpass für ihn, das legt ihm nur Steine in den Weg!“ Danach muss ich mich mal kurz sammeln.
Es geht um mehr
Ich behandel Jim „ganz normal“, nämlich wie meinen Sohn. Ich mache auch gar nichts zum Problem. Im Gegenteil: ich merke, dass ich in vielen Punkten sehr entspannt bin und mir noch nie darüber Gedanken gemacht habe, ob das ein erhöhter Pflegeaufwand ist oder nicht. Es geht mir nicht darum, auf Biegen und Brechen einen Pflegegrad für Jim zu erwirken, nur um ihn zu haben. Es geht mir auch nicht zwingend um die paar Euro, die man da bekommt. Es geht mir um die Anerkennung unserer Situation und auch die Wertschätzung der Pflegeleistung, die wir Eltern zusätzlich zur „normalen“ Care-Arbeit völlig unentgeltlich erbringen. Es geht mir darum, nicht als hysterisch abgestempelt zu werden. Es geht mir um die Akzeptanz der Realität. Und die Tatsache, dass Pflege sehr viel weiter gefasst werden müsste.
Ich kann jetzt klagen, wenn ich möchte. Das war auch mein erster Impuls. Mittlerweile bin ich mir da nicht mehr sicher. Denn die Auseinandersetzung mit Versicherungen, Ämtern etc. ist kraftraubend, ermüdend und ernüchternd. Hab ich einfach keinen Bock drauf. Ich hab Bock auf unbeschwerte, gute Laune. Deshalb lache ich lieber über die ganze Geschichte. Vielleicht ist das Galgenhumor. Den muss man sich aber leisten können, finanziell und emotional. Der Heilige Pflege-Gral bleibt eine Legende für uns, und die schellenbesetzte Narrenkappe kommt jetzt in den Keller. Der Vorhang fällt, die Show ist vorbei. Kein Applaus.
Liebe Marison, angesichts Deines Berichtes bin ich sprachlos…
Es muss doch eine Möglichkeit gegeben, eine sachgerechte Entschuldigung zu bekommen.
Nicht aufgeben!
Liebe Grüße Marliese
Ja, das wäre schön. Ist aber recht aussichtslos, fürchte ich…
Das ist wirklich ein Trauerspiel. Wir haben für unsere Tochter gerade erst nach Klage vor dem Sozialgericht 50%Schwerbehinderung und die Merkzeichen B und H erhalten. Beim Pflegegrad liegt die Entscheidung nach der zweiten Ablehnung durch den MdK jetzt beim Auschuss der Krankenkasse…. Die selbe Begründung wie bei euch. Sie kann sich doch alleine Versorgen! Die Krönung war bei der MdK- Begutachtung: Betreibt sie Selbstverletzung? Als ich darauf hinwies, dass sie zwei Suizidversuche gemacht hat, bekam ich zur Antwort:“ Na das ist ja nicht regelmäßig jede Woche so…“ Da frage ich mich schon, was da gerade für ein Mensch vor mir sitzt!😤