Gruß aus dem Beiboot

Gruß aus dem Beiboot

12/10/2022 2 Von Marison

Ich habe 8.000 Zeichen Text gelöscht. Weg. Bewusst. Es waren 8.000 Zeichen Wut-Text. Ich musste mir das mal von der Seele schreiben. Ich war verletzt und beleidigt. Dann lag der Text ein paar Tage. Und liebe Menschen haben mich daran erinnert, dass es nicht immer gut ist, einfach alles in die Welt rauszubrüllen. Also habe ich mich umentschieden. Ich suche den Austausch, ein Gespräch. Auf Augenhöhe. Und möchte versuchen, diesen neuen Text reflektierter und weniger emotionsgeladen zu formulieren.

Persona non grata

In erster Linie richten sich die nächsten Zeilen an die Menschen, mit denen ich eigentlich in einem Boot sitze. Oder naja, nicht ganz. Ich sitze eher in einem Beiboot. Aber letztendlich schippern wir alle in eine Richtung. So stelle ich mir das zumindest vor. Mein Sohn ist Autist. Ich bin (soweit ich weiß) neurotypisch – deshalb das Beiboot. Überspitzt gesagt bin ich damit per se persona non grata. Das habe ich mir nicht ausgesucht. Es macht mich aber zu einem Teil einer großen Community. In dieser Community ist die Stimmung in den sozialen Medien gerade sehr aufgeheizt. Und ich möchte verstehen. 

Immer wieder lese ich – in ganz unterschiedlichen Formulierungen –, dass Autist*innen für sich auf- und einstehen (zu recht!) und sagen: wer nicht Autist*in ist, kann niemals Wertvolles zum Autismus-Diskurs beitragen. Wir neurotypischen Menschen können nicht nachempfinden, was Autist*innen fühlen, was sie brauchen, wie es ihnen geht. Soweit so gut. Teilen kann ich zustimmen, anderen möchte ich widersprechen. 

Ich bin die Expertin für meinen Sohn

Als Mutter eines Autisten bin ich in erster Linie die Expertin für meinen Sohn. Niemand – wirklich NIEMAND – außerhalb der Familie hat einen besseren Zugang zu Jim. Die Aussage, dass nur Autist*innen andere Autist*innen wirklich verstehen können, trifft mich. Härter als mir lieb ist. Ich lege die Aussage jetzt mal auf die Goldwaage (rw) und traue mich folgendes zu sagen: diese Worte implizieren, dass jeder x-beliebige Mensch mit einer Autismusdiagnose meinem Sohn gerechter werden könnte als ich. Das möchte ich challengen.

Sicher, ich kann nicht in Jims Innerstes schauen Andere übrigens auch nicht. Aber ich habe einen Menschenverstand, Empathie und viel Zuwendung für meinen Sohn übrig. So wie all die Fachleute, mit denen Jim in Berührung ist und die auch neurotypisch sind. Wir alle sind gut und wichtig für Jim, für seine Entwicklung, für sein Sein. Tatsächlich habe ich vor einigen Jahren mal nachgefragt, ob es offen diagnostizierte Autist*innen in unserer Gegend für Jims Therapien gibt.  Das war zu einer Zeit, in der ich das Gefühl hatte, ich finde keinen Zugang zu ihm. Für diese Frage wurde ich übel angegangen. Und auch für die Tatsache, dass Jim überhaupt Therapien macht. Hä? Letztendlich habe ich alleine den Zugang zu meinem Sohn gefunden. Mir blieb auch nichts anderes übrig. Es war nicht immer leicht und hat viel Zeit und Kraft gekostet. Aber es war wichtig und gut. und eine wertvolle Erfahrung.

Jim und Mama FußballnetzWir lernen doch voneinander

Die Welt ist die, die sie ist. Und ich bin die, die ich bin. Jim wird in einer nicht-inklusiven Gesellschaft mit einer neurotypischen Mutter zurecht kommen müssen. Also machen wir das beste draus und versuchen, den Schaden – soweit es uns nur möglich ist – zu begrenzen. Das bedeutet für mich, dass ich bei erwachsenen Autist*innen mitlese, anderen Familien folge, die in ähnlicher Situation sind, und meiner Intuition folge. Ich bin nicht Autismus-Expertin. Aber ich setze mich damit auseinander, weil ich lernen möchte.

Was ich nicht brauche, sind Pauschalaussagen, dass meine Meinung niemanden interessiert, weil ich selbst nicht Autist*in bin. Das ist für den Diskurs ja auch null hilfreich, denn – a little louder for the people in the back: Familienkonstellationen wie unsere gibt es nun mal. It’s a thing! Ich möchte jetzt nicht die „but not all men…“-Argumentation auspacken. Und trotzdem: es soll tatsächlich neurotypische Eltern geben, die ihre Kinder nicht durch schwer traumatisierende Therapien schleifen oder die Hilfestellungen von Autist*innen ablehnen. Vielleicht leben sie einfach nur ihr Leben und das funktioniert für alle gut.

Meine Empfindung ist so valide wie eure

Niemals käme ich auf die Idee, einer neurodivergenten Familie ihre Empfindung abzusprechen. Oder ihre Kompetenz. Mir würde nicht im Traum einfallen, Autist*innen ihre Gefühlslage zu erklären. Das ist aber keine Einbahnstraße. Neurotypische Eltern von autistischen Kindern haben eine Herausforderung, die neurodivergente Eltern nicht nachvollziehen können. Neben den üblichen – ganz natürlichen – Selbstzweifeln als Eltern sind sie auch mit einem für sie neuen Thema konfrontiert, das ihr Familienleben sehr grundlegend verändert. Sie müssen lernen, sich einzufühlen. Und sie müssen lernen, sich von einem Lebensentwurf zu verabschieden, der über lange Zeit ja sehr präsent für sie war. Das muss nicht bemitleidet werden, weil es nicht bemitleidenswert ist. Aber zumindest kann man diesen Familien grundsätzlich erstmal nicht vorenthalten, auch eine Stimme in der neurodivergenten Community zu haben. Denn sie sind nun einmal Teil davon.

Nicht alle Profile passen immer zueinander. Nur weil der kleinste gemeinsame Nenner die Diagnose ist, muss man sich nicht gut finden. Das Gute an den sozialen Medien ist ja, dass man selbst entscheiden kann, wem man dort folgt und wessen Content für das eigene Wohlbefinden gut ist. Wer das hier Geschriebene mit mir diskutieren möchte, ist dazu herzlich eingeladen. Ich freue mich auf und über den Austausch. Wem mein Content nicht gut tut, darf auch einfach entfolgen oder blockieren. Ich kann damit leben. An meiner Lebensrealität ändert es nichts.

 

Fotos: © Marie Haefner für BRIGITTE Mom, 2021