Glück gehabt
Jim rennt wie ein Wilder über den Spielplatz. Dabei ist er völlig zufrieden mit sich und bei sich. Er interessiert sich für die kleineren Kinder. Die stellen nämlich keine so komplexen Sprachanforderungen an ihn. Die Großen findet er auch cool, wie sie kicken oder Körbe werfen. Sie lassen ihn mitmachen. Und solange er zwischen ihren Beinen rumrennt, spielen sie auch nach seinen Regeln. Bei Gleichaltrigen schaut Jim gern einfach zu. Und wenn es ihm zu langweilig wird, nimmt er Kurs auf die Rutsche oder den Kletterturm und tobt sehr glücklich allein über die Geräte. Er holt sich bei allen Gruppen das, was er braucht. Und geht, wenn es nicht mehr das Richtige für ihn ist. Das mal vorweg.
Willkommen in „den Gruppen“
Austausch suchen – das war das erste, das ich nach Jims Diagnose tat. Eine Gruppe für mich finden. Geht wahrscheinlich den meisten Menschen so. Völlig wahllos bin ich in lauter Facebook-Gruppen eingetreten, die sich mit dem Thema Autismus beschäftigen. Ich habe Blogs gelesen, Foren durchkämmt, ich wollte möglichst viel erfahren. Von Autist*innen, von Eltern autistischer Kinder und Expert*innen. Erstmal aufsaugen. Und natürlich auch selbst erzählen. In unserem Bekannten- und Verwandtenkreis gibt es – soweit wir wissen – keine autistischen Kinder. Also habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Um zu erzählen, aufzuklären und zu erklären, ohne jedes Treffen zu einer Lehrstunde ausarten zu lassen. Im echten Leben und in der Social Media-Welt haben sich drei Gruppen hervorgetan, die zum Teil unterstützend und hilfreich, aber mindestens ebenso herausfordernd und zermürbend sind. Alle drei Gruppen haben etwas gemeinsam: die Ansage „Glück gehabt!“.
Die Gruppe der Eltern mit neurotypischen Kindern
„Glück gehabt“ höre ich oft von anderen Eltern mit neurotypischen Kindern. Glück gehabt im Sinne von: man merkt Jim ja erstmal gar nichts an. Er geht fast als neurotypisch durch. Die nett verpackte Variante von: Gott sei Dank nicht ganz behindert. Und Glück gehabt, weil gesund. Überhaupt ist der Satz, den ich auch so oft gesagt habe, „Hauptsache gesund!“ echt bescheuert. Denn er kommt meist von denen, die sich nicht mit Dingen abseits der Norm auseinandersetzen müssen. Aber gut, ist lieb gemeint. Ich kann auch nicht immer nur streng sein mit denen, die nicht in unserer Situation sind.
Diese Gruppe ist mir eigentlich die liebste, auch wenn sie am weitesten von unserem Leben entfernt ist. Wenn man das peinliche Rumgeeier um die Themen Autismus („macht ja nix!!“) und Sprachentwicklung („wirst sehen, das kommt noch. Jim ist schlau, der holt das alles auf!“) hinter sich gebracht hat, kann sich die Unterhaltung wieder um ganz andere belanglose Dinge drehen. Und das tut gut.
Die Gruppe der Eltern autistischer Kinder
„Glück gehabt“ höre ich auch von anderen Eltern autistischer Kinder. Glück gehabt im Sinne von: euch hat’s ja gar nicht schlimm getroffen, bei euch ist ja nur die Kommunikation ein Thema. Keine Aggression oder sowas. Jim nimmt keine Medikamente. Jim schläft. Jim isst (nur nicht, wenn ich koche). Jim spielt. Es gibt keine zusätzliche Diagnose. Jim hat „nur“ Autismus. Das war’s. Und genau da werd ich fuchsig, denn: wenn in dieser Gruppe schon eingeteilt wird nach „schlimm“ und „weniger schlimm“, wie sollen wir denn von anderen erwarten, genau das nicht zu tun?
Die Gruppe der Eltern autistischer Kinder ist eine Community. Hier glaubt man verstanden zu werden. Letztendlich – für mich – ein Trugschluss. Denn gerade hier zeigt sich, wie unterschiedlich die Kinder sind. Der Grundsatz „kennst du eine/n Autist*in, kennst du eine/n Autist*in“ wird wirklich nirgendwo deutlicher. Und auch die Eltern könnten unterschiedlicher nicht sein: Hier fliegen einem völlig überzogene Positivity und unfassbar bedrückende Negativity um die Ohren. Beides wirkt auf mich gleich toxisch. Hab ich einfach keinen Bock drauf. „Unsere Kinder sind so etwas Besonderes, sie sind die besseren Menschen!“ empfinde ich als genauso verstörend wie das verzweifelte „mein Kind spricht nicht. Bitte sagt mir: gibt es die Hoffnung, dass er/sie irgendwann ganz normal spricht? Bin am Ende!“.
Was bei der Gruppe der Eltern autistischer Kinder allgegenwärtig ist, ist der Kampf. Alles ist Kampf. Andauernd wird gekämpft. Das ist wahrscheinlich auch der Punkt, der mich am meisten abschreckt. Ich kämpfe nicht gern. Ich bin nicht gut darin. Ich mache es gern recht. Auch wenn ich genervt bin von den Sachbearbeiter*innen in sämtlichen Ämtern, bleibe ich zuvorkommend und freundlich. Bis jetzt hat sich das immer als hilfreich erwiesen. Ich gehe nicht davon aus, dass mir andauernd Unrecht widerfährt oder jemand mir Böses will. Warum denn auch? Versteht mich nicht falsch, natürlich müssen wir uns für die Rechte und das Wohlbefinden unserer Kinder einsetzen. Zwischen einsetzen und kämpfen können aber Welten liegen. Es muss nicht immer martialisch werden. A little kindness goes a long way.
(Anmerkung: der Fairness halber, es gibt durchaus auch Austauschgruppen für Eltern autistischer Kindern, die toll sind. Diese sind meist gut moderiert von Fachleuten. Das macht anscheinend den Unterschied.)
Die Gruppe der erwachsenen Autist*innen
„Glück gehabt“ höre ich auch in Gruppen von erwachsenen Autist*innen. Glück gehabt im Sinne von: gut, dass Du uns gefunden hast, wir erklären dir jetzt mal dein Kind. Als neurotypische Mutter eines autistischen Kindes fühle ich mich in dieser Gruppe oft als Teil der Kategorie „die Schlimmsten der Schlimmsten“. Sicher, viele Autist*innen haben bestimmt keine gute Erfahrungen mit ihrem neurotypischen Umfeld gemacht. Das spreche ich ihnen nicht ab. Und dass sie eher verhalten sind im Umgang mit NTs, kann ich bis zu einem gewissen Grad auch nachvollziehen.
Und auch wenn ich weiß, dass Autist*innen ohne Umschweife und sehr direkt kommunizieren, muss ich zugeben, dass mich letzte Woche ein Kommentar unglaublich geärgert hat. Ums kurz zu machen: ich bekam erklärt, dass kein autistisches Kind therapiert werden muss. What? Nein, Moment. Das sehe ich anders. Zum einen: Therapie ist nicht gleich Therapie. Therapie ist nicht gleich Zwang. Und Therapie ist auch nicht unbedingt „ich dreh mir mein Kind so, dass es neurotypisch wirkt“. Zum anderen: Ein neurotypisches Kind, das irgendwo Herausforderungen hat, würde man ja auch fördern. Warum soll ich meinem Sohn keine Unterstützung zukommen lassen? Und mir selbst? Es geht nicht darum, ihn wie ein Dressurpferd zur Performance zu prügeln. Sondern es geht um den Erwerb von life skills, die er nunmal braucht, um ein eigenständiges Leben zu führen. Und weil er ganz offensichtlich anders lernt als andere Kinder, suche ich mir dafür Hilfe in Form von Therapeut*innen, die das übrigens super machen. Ich schicke ihn nicht mit vier Jahren zum Russisch-Unterricht, sondern Jim lernt einen Stift zu halten oder sich die Jacke selber an- und auszuziehen.
Vielleicht bin ich zu zart besaitet und nehme es zu persönlich. Aber es fällt mir schwer, mich auf Ratschläge einer Community einzulassen, wenn im gleichen Satz erwähnt wird, dass ich meinem Sohn zuviel zumute und ihn einfach mal so akzeptieren sollte, wie er ist, anstatt mich an ihm abzuarbeiten. Das hat mich mehr getroffen als mir lieb ist. Nun, ein Negativerlebnis macht die Gruppe nicht aus. Und ich bin sehr dankbar für die Einblicke, die Autist*innen in diesen Gruppen und Foren geben. Die Hilfestellung, die sie uns Eltern – aber letztendlich ja vor allem unseren Kindern – geben, ist unglaublich wertvoll. Das weiß ich zu schätzen. Jetzt hoffe ich, dass neurotypischen Eltern autistischer Kinder nicht immer gleich mit größter Skepsis begegnet wird. Viele von uns lieben ihre Kinder genau so wie sie sind und müssen sie gleichzeitig für die Anforderungen des Lebens rüsten. Die Aufgabe hat es in sich.
So ein Glück
Ich versuche, es wie Jim zu halten: ich nehme mir aus den Gruppen das, was mir hilft und mache mein Ding, wenn es mir zuviel wird. In keiner Gruppe fühle ich mich so zuhause, dass ich dort sesshaft werden möchte. Ich bleibe einfach auf Gruppenwanderschaft. „Glück gehabt“ denke ich, während ich Jim auf dem Spielplatz hinterherschaue. Glück gehabt im Sinne von: Jim zeigt mir, dass man gar nicht dazugehören muss. Man kann auch einfach bei sich selbst sein. Dieses Kind ist das pure Glück. Für mich, für uns.
Du hast alles gesagt, was ich mir schon seit langem denke.
Ich könnte es nicht besser schreiben.
Danke
❤️
Du sprichst mir aus dem Herzen! Toll beschrieben!
❤️
Du hast ein wirklich großes Talent, Marison!! Wirklich! Immer wieder, wenn ich deine Texte lese habe ich Gänsehaut…!
So schade, dass ich nicht immer zum Lesen komme… Aber heute hab ich wieder gelesen und du triffst einfach wieder mal den Nagel auf den Kopf!! Auch so wertvoll für mich selbst, zu sehen, dass ich offenbar nicht alleine bin, weil du mir aus der Seele gesprochen hast! Nur könnte ich mich nie so gut ausdrücken…
Wirklich toll dein Blog! Deine Texte! Und Jim ist wirklich herzerweichend! Du machst alles richtig! 💝
Ganz lieben Dank! Und schön, dass Du hier bist! ❤️