Geh weg, Mama!

Geh weg, Mama!

04/11/2022 4 Von Marison

Sehr energisch und mit viel Nachdruck schiebt Jim mich zu Seite. „Nein, Mama, geh weg! Lass ihn Ruhe. Kann schon ‘leine! GEH WEEEEHEEEEEG!“ Dabei wollte ich ihn doch wieder nur vor einer Katastrophe bewahren. Oder vielmehr mich selbst vor dem Herzrasen schützen, wenn Jim mal wieder mit dem größten und schärfsten aller Messer an einem Apfel rumschnitzt. Oder mit dem Fahrrad sehr zielgerichtet auf die große Hauptstraße zurast. Oder mit dem BobbyCar die Kellertreppe runterdüsen möchte.

Der Weg in die Selbständigkeit

Ja, ich weiß schon, das ist jetzt auch das Alter. Es ist ja ­auch gut so. Ich bin nicht traurig, dass ich für bestimmte Dinge nicht mehr so am Start sein muss. Dass Jim vieles schon sehr gut alleine hinbekommt. Und auch will. Wie viele Eltern neurodivergenter Kinder denke ich natürlich ganz oft darüber nach, wie die Zukunft für Jim sein wird. Ob er später mal ein eigenständiges Leben wird führen können. Jeder Handgriff, jede Erfahrung, die er jetzt alleine macht, sind in meinen Augen ein Schritt in seine Selbständigkeit. Im Grunde kann ich das also nur feiern und ihn darin weiter ermutigen und bestärken.

Wäre da nicht immer dieser was-ist-wenn-Gedanke. Der überkommt mich meistens draußen. Im Park. Vor ein paar Tagen erst. Jim und ich waren mit seinem Fahrrad unterwegs. In dem Park ist unser Spielplatz. Wenn Jim fertig ist mit rutschen und klettern und wippen, dreht er gern die ein oder andere Runde mit dem Fahrrad durch den Park. Ich bin immer ganz dankbar. Je mehr Energie aus dem Kind draußen ist, desto schonender wird unsere Einrichtung zuhause behandelt. Also, tritt ruhig in die Pedale, mein Sohn!

Aus den Augen, sehr im Sinn!

Jim RadAn diesem Tag wollte Jim eine extragroße Runde drehen. Eine Runde, die ich nicht einsehen kann. Auf gar (!) keinen (!) Fall (!) durfte ich mitgehen. Er wollte ganz dringend ganz alleine fahren. Die meisten Eltern von Sechsjährigen denken sich jetzt: naja, soll er doch, er kennt sich in dem Park ja schließlich aus. Und tatsächlich: die meisten Kinder in diesem Park sind dort sehr auf eigene Faust unterwegs. Ich musste ein bißchen schlucken und dann mit Anlauf und zugekniffenen Augen über meinen eigenen Schatten springen (rw). Also los, Jim, ich warte hier, aber wirklich nur diese Runde. Und weg war er.

Mit „weg“ meine ich: er war nicht mehr in meinem Blickfeld. Und wie das so ist, auf einmal fühlen sich 30 Sekunden an wie eine halbe Stunde. Ich habe mich gefragt, wie lange er wohl für die Runde brauchen würde. Und fand, dass er schon viel zu lange weg war. Dann kam plötzlich Panik in mir auf. Was wenn Jim die eine Abzweigung verpasst und sich jetzt verfahren hatte? Wie könnte er sich verständlich machen? Wer könnte dem Jungen helfen, der zwar weiß, dass er Jim heißt und sechs Jahre alt ist, aber sonst wenig über sich oder die Situation, in der er sich befindet, berichten kann? Wie würden wir wieder zueinander finden? Naja, diese Gedanken eben, ihr wisst schon.

Wäre ich nur stehengeblieben

Ich habe nach ihm gerufen. Keine Antwort. Ich habe gewartet, kein Jim. Also habe ich das Einzige getan, was mir sinnvoll erschien, aber natürlich ganz falsch war: ich bin losgelaufen. Irgendwo auf dem Weg würde ich ihn schon finden. Nach ziemlich genau der Hälfte der Strecke hörte ich ihn. Brüllen. Mich rufen. Und ich wußte sofort: er war jetzt da, wo ich auf ihn warten wollte. Nur dass ich nicht mehr da war. Da kam die Panik in ihm auf. Und in mir das schlechte Gewissen, gepaart mit großer Erleichterung. Wir sind dann noch ein paar Minuten umeinander rum geirrt, bis wir uns wieder gefunden hatten. Wäre ich einfach nur stehengeblieben und hätte ihm vertraut, hätte ich uns viele Nerven schonen können.

Ich weiß, es gibt lauter Möglichkeiten, das Kind zu „tracken“. Dürfen alle machen, wie sie es wollen. Für viele ist so ein Tracker auch sicher sinnvoll. In unserem Fall will ich das einfach nicht. Ich möchte Jim zutrauen, dass er weiß, was er tut. Er versteht die Anweisungen und Regeln. Nur hält er sich nicht immer dran. Das üben wir einfach weiter.

Mütter, so nervig!

Und dann gibt es auch die „Geh weg!“-Momente, die ich ganz rührend finde. Wenn er mit seinem Spielplatzkumpel auf dem Kletterturm sitzt und sie dort mit ihren Autos spielen. Da darf ich auf keinen Fall stören. Oder zu nah sein. Oder überhaupt nur hinschauen. VOLL PEINLICH! In solchen Momenten spiele ich nur dann eine Rolle, wenn es Schokokekse abzustauben gibt (rw). Aber selbst dann wird mein – zugegeben sehr mütterliches – „hey, erst essen, dann klettern!“ mit einem genervten „lass ihn bitte Ruhe jetz’!“ quittiert. Ich stelle mir dann immer vor, wie er seinem Kumpel einen genervten Blick samt Augenrollen zuwirft, à la „Mütter, ey, so nervig!“

Jim BügelperlenSpeicher auffüllen

Nachdem Jim den halben Tag draußen den kerligsten Kerl gemimt hat, wird er dann aber doch auch nochmal kuschelig. Nämlich in der Sekunde, in der wir die Haustür aufschließen. Offensichtlich ist der Autonomie-Speicher dann leer. Dann muss erstmal viel gekuschelt und zusammen gespielt werden. Diese Zeiten füllen den Speicher wieder auf, bis das nächste Park-Abenteuer ansteht.     

Dieses Loslassen ist der längste Trennungsschmerz. Und traurig-schön. Weil es so faszinierend ist zu sehen, wie Jim die Welt immer mehr für sich entdeckt. Und das auch für sich haben möchte. Mit jedem „Geh weg, Mama!“ gewinne ich ein Stück Freiheit zurück. Und gleichzeitig werde ich auch immer ein kleines bißchen weniger gebraucht. Heul leise, Mutterherz!