Gedanken zum Welt-Autismus-Tag

Gedanken zum Welt-Autismus-Tag

02/04/2021 1 Von Marison

Heute, am 2. April, ist Welt-Autismus-Tag. Soweit ich das nachlesen kann, ist es vor allem ein Tag, dem Autist*innen mit einem gewissen Schrecken entgegen sehen. Gedacht war es als ein Tag, an dem für Aufmerksamkeit und Akzeptanz gekämpft wird. Tatsächlich ist daraus aber ein Tag geworden, an dem vor allem darüber berichtet wird, was Autist*innen nicht können und welche vermeintlichen Defizite sie aufweisen. Eine schallende Ohrfeige, die die neurotypische Welt da wieder verteilt. Zu recht posten viele Autist*innen unter dem Hashtag #nothingaboutuswithoutus. Denn die Berichterstattung zeigt überwiegend die neurotypische Ansicht über Autismus und lässt Autist*innen kaum zu Wort kommen. Wer sich zum Weltfrauentag darüber empört, dass sich Männer lautstark äußern und diesen Tag für ihre Selbstinszenierung kapern, muss zum Welt-Autismus-Tag mindestens genauso empört sein und – ganz wichtig – nicht der defizitären Berichterstattung auf den Leim gehen, sondern Autist*innen zuhören.

Warum ich etwas schreibe

„Ja, aber, Marison, du bist doch auch neurotypisch, warum meldest du dich dann zu Wort?“ Berechtigter Einwand. Es ist so: ich habe tatsächlich lange überlegt, ob ich das Recht habe, diesen Tag für einen Post zu nutzen. Ich habe mich aus zwei Gründen dafür entschieden. Erstens: dieser Post zielt nicht auf Defizite oder Inselbegabungen oder sonst etwas, das man Autist*innen so platt zuschreibt, ab. Sondern ich will von Jim erzählen. Zweitens: ich bin Jims Mutter. Und auch wenn ich nicht Autistin bin, so bin ich doch Mutter eines autistischen Kindes. Jim ist noch zu klein, um die Tragweite zu begreifen oder um zu verstehen, welche Kämpfe wir als seine Eltern kämpfen. Ich finde es wichtig, dass am Welt-Autismus-Tag auch Eltern von autistischen Kindern eine Stimme haben.

Jims Talent

Wenn ich betrachte, was Jim alles leistet, werde ich oft fast ein bißchen demütig. Mit vier Jahren hat er schon den Dreh raus und schafft es sich mitzuteilen, obwohl klassische verbale Kommunikation für ihn nicht natürlich ist. Er zaubert allen ein Lächeln ins Gesicht. Er schafft es, sich immer noch ein Stück Schokolade mehr zu erschleichen. Vor allem bewegt er sich ständig in einer Welt, die fast vollständig auf neurotypische Menschen ausgelegt ist. Wie mutig von Jim! Ich frage mich oft, wie es für mich wäre, wenn die Welt für mich nicht immer begreifbar und „zu viel“ wäre. Wenn man von mir andauernd verlangte zu funktionieren und ich dabei gar nicht wüsste, wie das eigentlich geht. Der Alltag neurotypischer Menschen hält wenig bereit, um Autist*innen auch einen angemessenen Alltag zu ermöglichen.

Jim MaskeNehmen wir doch nur mal das Beispiel Supermarkt. Je voller der Supermarkt ist, desto schwieriger wird es für Jim das auszuhalten. In der Schlange an der Kasse zu warten ist für ihn kaum zu ertragen. Wenn mehr als zwei Kund*innen vor uns an der Kasse sind, drehe ich noch eine Extrarunde durch die Gänge mit ihm. Denn warten wir zu lange, kippt die Situation. Davor möchte ich Jim – und auch mich selbst – schützen. Ich will Jim nicht in eine für ihn existenziell bedrohliche Lage bringen, und ich will mich den Blicken der anderen entziehen, die wieder den Kopf schütteln über das „verzogene Kind“ und die „inkonsequente Mutter“. In der Schweiz gibt es Testläufe in Supermärkten, die Einkaufszeiten für Autist*innen anbieten: ohne Jingles und Supermarktradio, ohne Wartezeiten an der Kasse und mit ganz viel Ruhe. Das wäre doch ein Konzept für jeden Supermarkt? Und könnte in vielen anderen Bereichen auch umgesetzt werden: in Ämtern, in Arztpraxen, im Zoo, im Schwimmbad… warum die Bereitschaft dazu nicht da ist, ist mir schleierhaft. Und nimmt Autist*innen so viele Freiheiten.

Jim soll Jim sein dürfen

Ich höre oft „Jim ist so clever, er wird das alles aufholen“. Warum eigentlich? Damit er möglichst nicht auffällt und doch ein „ganz normales“ Leben führen wird? Für wen wäre das gut? Wie so oft: die Aussage ist immer lieb gemeint, aber sie spricht Jim ab, er selbst sein zu dürfen. Jim muss gar nicht alles aufholen, er muss nicht in ein Schema passen. Jim soll Jim sein dürfen. Hier darf kein Maßstab angesetzt werden. Denn beim Sein gibt es kein Richtig oder Falsch.

Mein Wunsch als Mutter eines autistischen Kindes

Als Eltern eines autistischen Kindes lernen wir, Entwicklungspläne links liegen zu lassen und unseren Alltag mit dem Alltag anderer nicht zu vergleichen. Das führt auch dazu, dass Eltern autistischer Kinder oft isoliert und einsam sind. Wir sind selten integriert in die Kindergarten-Eltern-WhatsApp-Gruppe, in Spielplatztreffen, bei Kindergeburtstagen und so weiter. Man sagt, dass Eltern nach einer Diagnose oft einen Trauerprozess durchlaufen. In meinem Fall kann ich bestätigen: ja, das stimmt. Ich habe aber nicht wegen der Diagnose getrauert, sondern weil ich bei all den genannten Dingen zwar nicht böswillig ausgeschlossen wurde, aber eben auch nicht eingebunden. Woran liegt das?

SpielplatzIch unterstelle keine böse Absicht. Vielmehr glaube ich, dass es Verunsicherung ist, weil Autismus noch immer mit etwas Traurigem verbunden wird, oder zumindest mit etwas Unberechenbarem oder Unheimlichen. Und weil Eltern neurotypischer Kinder oft nicht wissen, wie sie auf ein autistisches Kind reagieren sollen. Was wir brauchen ist: nehmt uns mit, bindet uns mit ein, lasst uns nicht am Rand stehen. Und habt nicht Erwartungen an uns, die wir nicht erfüllen können. Denn es kommt vor, dass wir öfter hintereinander kurzfristig absagen müssen, weil wir merken, dass ein Treffen zu viel wäre an dem Tag. Dass wir einen Geburtstag früher verlassen müssen, weil die Situation zu kippen droht. Dass es für uns wichtig ist, bestimmte Zeiten einzuhalten und wir nicht warten können. Dass Spontaneität bei uns selten funktioniert. Dass wir jedes Treffen, das außerhalb unserer normalen Tagesroutine ist, sorgsam vorbereiten müssen. Aber dass wir uns trotzdem freuen. Sehr sogar! Wir sind so eingespannt in Kommunikation mit Ämtern, Therapeuten, Psychologen und sonstigem, dass ein kleiner ungezwungener Moment ganz viel Balsam für unsere Seelen sind.

Feiert (mit) uns!

Was ich mir wünsche: feiert mit uns. Feiert mit uns die Meilensteine und Erfolge unserer autistischen Kinder. Auch wenn sie euch auf den ersten Blick klein erscheinen oder nicht die üblichen Meilensteine von gleichaltrigen Kindern sind. Freut euch mit uns. Ich freue mich auch, wenn eure Kinder das erste Mal ohne Stützräder Fahrrad fahren. Wenn sie zum ersten Mal ihren Namen schreiben. Oder ein Gedicht aufsagen können. Also erzählt uns ruhig davon. Die Entwicklung von Kindern ist kein Wettbewerb. Nur weil Jim vielleicht das ein oder andere nicht tun wird, kann ich trotzdem euren Kindern applaudieren. Das eine schließt nämlich das andere nicht aus.

Zu guter Letzt: der Welt-Autismus-Tag soll Aufmerksamkeit bringen. Aufmerksamkeit ist natürlich gut. Aber was es noch mehr braucht ist Akzeptanz. Alle Aufmerksamkeit der Welt führt ins Leere, wenn die Akzeptanz nicht gegeben ist. Akzeptanz beinhaltet auch, dass wir unsere neurotypische Welt öffnen und nicht nur zugänglich sondern auch lebbar machen für Autist*innen. Dafür müssen wir unseren Horizont erweitern, offen sein für uns Ungewohntes und aufhören zu bewerten, was ein Mensch können muss. Wenn wir das tun, genau zuhören, hinschauen und das, was Autist*innen uns mitteilen, aufnehmen, sind wir einen großen Schritt weiter.

(Anmerkung: es gibt viele spannende Blogs von Autist*innen. Zwei Artikel haben mich zum Thema Welt-Autismus-Tag und Autism Acceptance Month besonders bewegt:
https://www.robotinabox.de/weltautismustag-2020/#more-3181 und
https://autisticnotweird.com/awareness-month/?fbclid=IwAR15E9ycvRCpmFmlEbU_7dgP-3spsq5hq2KF4GVQ_nqz4wTwxgKIs0DYpLo )