Fleck, lass nach!

Fleck, lass nach!

27/03/2021 6 Von Marison

Als ich Kind war, haben meine Schwester und ich jedes Jahr zu Weihnachten Kalender gemacht für unsere Großeltern. Diese DIY-Kalender mit leeren Seiten. Immer abwechselnd haben wir ein Bild gemalt. Beim einen Kalender hatte ich die ungeraden Monate, beim anderen meine Schwester. Und jedes Jahr gab es an Heilig Abend ein großes „Ooooh“ und „Aaaah“ und „Wie schön!“. Meine Schwester hatte diesen Rastertrick, mit dem sie die coolsten Comics abzeichnen konnte. Ihre Bilder habe ich immer sehr bewundert. Eine schöne Erinnerung.

Die Rechnung ohne den Wirt gemacht

Für mich stand fest: diese Tradition würde fortgeführt, komme was wolle. Kein Weihnachten ohne selbstgemachte Kalender. Ist so! Heutzutage macht man Kalender ja eigentlich mit dreimal tippen auf dem Handy in irgendeiner App, aber so leicht wollte ich es meinem Sohn nicht machen. Ich hatte ein bißchen Mitleid mit Jim, weil er ja keine Geschwister hat, er könnte sich die 24 Kalenderblätter also mit niemandem teilen. Ach, egal. Über’s Jahr würden wir sicher genügend Material zusammen bekommen. Schließlich malen Kinder gern. Und es ist Gesetz, dass Großeltern selbst das krickeligste Krickelkrakel „Ooooh“ und „Aaaah“ und „Wie schön!“ finden. Wie so oft im Leben hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wir bräuchten nämlich vier Jahre, um zwei Kalender vollzumachen. Wir könnten uns jetzt also schonmal an die Geschenke für Weihnachten 2024 machen. Denn: Jim macht um Stifte, Farben und Stempel einen sehr großen Bogen. Zumindest zuhause. Mit nichts ist er dazu zu bewegen, Farbe aufs Papier zu bringen. Ganz selten lässt er sich überreden, mal kurz den Pinsel in Farbe zu tauchen. Aber wirklich nur ganz kurz. Und sein Blick sagt dabei: was willst Du von mir, was soll ich damit, warum muss sich das tun? Seufz. Dann wird’s eben doch ein Fotokalender.

Der rote Apfel-Klecks

ApfelIm Kindergarten wird viel gemalt und gebastelt. Und Jim ist mit mäßigem Enthusiasmus dabei. Wahrscheinlich ist es die Gruppendynamik, der soziale Druck der Gruppe. Da macht er eben auch ein bißchen mit. Und so kommt die Handvoll Bilder zustande, die wir hier zuhause sammeln. Und die ich wie einen Schatz hüte. Während andere Eltern nicht mehr wissen wohin mit dem kreativen Output ihrer Kinder und schon nach Lagermöglichkeiten im Internet suchen (bloß nichts wegschmeißen!), liegen Jims Kunstwerke gut sichtbar bei uns aus. Auch Jim hütet seine Bilder sehr, da darf nichts wegkommen. Wenn er sich entschlossen hat, ein Bild aus dem Kindergarten nach Hause zu bringen, dann trägt er es so lange durch den Tag, bis es schon ganz zerknittert und zerknüllt ist, aber er gibt es nicht aus der Hand. Vor einigen Tagen kam er mir entgegen gerannt, hielt mir einen DIN A4-Zettel mit rotem Klecks hin: „Mamaaa, fertig, das issa Apfn“. Ein Apfel. Oh, Mutterherz, bleib stark jetzt.

Oh Schreck, ein Fleck!

Andauernd werde ich darauf hingewiesen, dass es für die kindliche Entwicklung so wichtig ist, dass gemalt und gebastelt wird. Schließlich sollen die Kinder den Umgang mit dem Stift üben. Bei uns fliegt jede Form von Stift und Farbe durch die Gegend. You name it, we have it. Selbst in eine Toucan Box wurde investiert. Das ist so ein Bastelabo mit wirklich schönen Jim maltBastelideen. Ich kann mich im Kreis drehen, mit Engelszungen auf ihn einreden, mit ihm gemeinsam den Stift aussuchen: Jim will einfach nicht. Und ich glaube, dass ich den Grund dafür gefunden habe. Vielleicht. Es ist so: Jim hält es nicht gut aus, wenn er Flecken hat. Auf den Anziehsachen oder eben auf der Haut. Beim Malen mit Finger-, Wasserfarben und Filzstiften passiert das leicht. Beim Stempeln auch. Wachsmalstifte und Buntstifte haben zwar ein geringes Fleckenrisiko, das kann Jim aber vielleicht einfach noch nicht einschätzen. Für ihn sind Stifte eben Stifte. Beim Stempeln bekam er vor einigen Wochen ein bißchen Farbe vom Stempelkissen an den Daumen, da hat’s gerappelt im Karton! Ich hatte meine liebe Mühe, ihm die Farbe vom Daumen zu entfernen, ohne ihm den Finger dabei wund zu schrubben. Wenn ich sage, dass Jim Flecken nicht gut aushält, dann bedeutet das, dass er fast körperliche Schmerzen zu haben scheint. Das mag für neurotypische Menschen seltsam erscheinen. Eine veränderte Wahrnehmung ist für autistische Menschen aber tatsächlich nicht ungewöhnlich. Es kann also durchaus sein, dass die Farbe am Finger bei ihm eine Form von Schmerz auslöst. Und weil ich nicht will, dass Jim Schmerzen hat, lassen wir das mit dem Malen einfach meistens sein. Ich möchte auch nicht zu Dingen gezwungen werden, die mir nicht gut tun. So einfach ist das.

Alles, was zählt

Wie also trainieren wir den Umgang mit dem Stift mit Jim? Wer kennt noch diese grässlichen Magnettafeln, bei denen man mit einem Schieber die Malfläche wieder frei machen kann? Damit üben wir. Da passiert nämlich nichts. Keine Flecken, alles gut. Nur aufhängen kann man die Kunstwerke dann eben nicht. Und auch für den DIY-Kalender eignet sich das nur mäßig. Gibt Schlimmeres. Wirklich malen ist auch mit den Magnettafeln nicht drin, aber das Alphabet steht immer hoch im Kurs. Und weil Jim nicht ganz alleine schreiben will, muss ich meine Hand auf seine legen. Dann werden alle Wörter geschrieben, die er buchstabieren kann: Mama, Papa, Jim, Bob, Bobo, Maus, Lightning McQueen, Rusteze, Pixar, Mack, Omi und Opa. Eben alles, was zählt in Jims Leben.

EisbärAls Jim in Quarantäne war, und auch sonst an den Wochenenden, hätte ich mir sehr gewünscht, Jim würde einfach mal ein bißchen Zeit mit Papier und Farbe verbringen und sich damit beschäftigen. Vielleicht um eben auch einmal sagen zu können: schaut her, was mein Sohn Tolles gemalt hat. Da ist sie also wieder, die verflixte Erwartungshaltung. Aber wer weiß, vielleicht wird Jim eines Tages aus dem Nichts den Stift in die Hand nehmen und druckreif in Schönschrift ganze Briefe verfassen. Vielleicht auch nicht. Ist auch nicht so wichtig. Ich hab ja immer den „Apfn“, über den ich mich freuen kann.