
Fed is best!
Ginge es nach Jim, bestände sein Speiseplan aus Schokolade und Äpfeln. Hier und da mal eine Portion Pommes oder ein Stück Pizza Margherita. Völlig ausreichend, findet er. Bißchen einseitig, finden wir. Das kennen wahrscheinlich die meisten Eltern autistischer Kinder. Essen ist oft ein Thema. Irgendwie muss das Kind ja die wichtigen Nährstoffe und Vitamine bekommen. Nur wie? Spoiler: ich weiß es auch nicht…
Kurzer Gruß an die Frau des Kinderarztes
Ich erinnere mich gut an den ersten Kinderarztbesuch mit Jim. Da war er gerade eine Woche alt. Stillen war irgendwie schwierig und Jim hatte ziemlich viel Gewicht verloren. „Sie sollten zufüttern“ sagte die Frau des Kinderarztes, die Hebamme ist und sich um die Mütter kümmert, während ihr Mann sich den Kindern widmet. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Völlig hysterisch machte ich mir den Vorwurf, eine schlechte Mutter zu sein, weil ich mein Kind nicht ausreichend ernähren konnte. Kudos an die Frau des Kinderarztes, die mich erstmal in den Arm nahm und mir dann versicherte: „Ich habe vier Kinder. Und ich bin Hebamme. Man sollte meinen, ich wüßte, wie das mit dem Stillen geht. Und tatsächlich hat’s bei mir auch erst beim vierten Kind geklappt. Bleiben Sie entspannt. Egal wie: fed is best!“ Und so zog die Flasche bei uns ein und nahm mir unglaublich viel Druck. Mit 3 Monaten hatte sich das mit dem Stillen dann eh ganz erledigt. Und Jim war wirklich gut genährt. Er war ein richtig properes Baby.
Vom allesessenden Nimmersatt zum picky eater
Als wir zu Brei und sonstiger Nahrung übergingen, war Jim unglaublich unkompliziert. Eigentlich aß er alles. Ziemlich ausnahmslos. Und gerne. Ein Nimmersatt vom Allerfeinsten. Irgendwas zu essen hatte er immer in der Hand, am liebsten Zwieback. Hauptsache es krümelt und macht Krach beim Essen. Und im Kindergarten war man überrascht über das Kind, das mehrere Portionen pro Tag vertilgte. Nur das süße Mittagessen am Freitag mochte er nie wirklich. Das kann ich sogar nachvollziehen. Für mich gehört Milchreis auch zu den kulinarischen Sünden dieser Welt.
Mit vier Jahren ging es los, dass Jim selektiv wurde beim Essen. Plötzlich ging vieles nicht mehr, was vorher überhaupt kein Problem war. Wir hatten Zeiten, in denen einzig und allein Spaghetti Bolognese möglich war. Danach kam die Mini Pizzen-Phase. Zwischendurch jede Menge Schokokekse. Und Äpfel. Ich kaufe Äpfel nur noch im 5kg-Beutel, damit ich nicht zweimal am Tag in den Supermarkt rennen muss. Manchmal frage ich mich, wie sein Magen diese Riesenmengen an Äpfeln überhaupt aushält. Und gleichzeitig bin ich froh, dass es überhaupt ein Obst gibt, für das er sich begeistern kann. Manchmal traut er sich an ein Stück Banane. Aber wehe ich komme mit Wassermelone oder Weintrauben an. Auf Reisen muss es immer ein McDonalds Cheeseburger sein. Warum auch immer?! Nach dem Kindergarten oder nach den Therapiestunden MUSS es eine Brezel oder Laugenstange sein. Das ist Gesetz!
Reis, Nudeln, Reis, Nudeln
Mittlerweile gehen Nudeln und Reis auch wieder ganz gut, wenn möglich mit wenig Sauce und vor allem ohne Gemüse. Außer Erbsen, die findet Jim anscheinend noch ganz lustig. Und so ist die sich immer wiederholende Frage „was essen wir am Wochenende?“ eigentlich immer sehr schnell geklärt, denn niemand hier hat Bock, zweimal zu kochen. Also Reis oder Nudeln. Ob Jim mit uns isst, hängt sehr von seiner Tagesverfassung ab. Uns so lassen wir ihn selbst entscheiden. Wenn er nicht am Tisch sitzen möchte, dann muss er das auch nicht. Manchmal fehlt es mir, dass wir selten ganz in Ruhe alle gemeinsam am Tisch sitzen und gemütlich gemeinsam essen. Aber es ist die für alle entspannteste Lösung. Meistens kommt Jim eh auch an den Tisch, wenn wir ihn nicht dazu auffordern.
Never change a running system!
Was mich am meisten überrascht: Jim verknüpft verschiedene Lebensmittel anscheinend mit bestimmten Orten. Zuhause frühstückt er immer ein Toastbrot mit Nutella und einen Apfel. Immer. Wirklich IMMER. Ohne diese Kombination geht er nicht aus dem Haus. Im Kindergarten gibt es dann nochmal ein kleines Frühstück. Ich bin ziemlich fest davon ausgegangen, dass er sich dort auch an den Äpfel bedient. Bis ich vor einigen Monaten gesehen habe, dass er sich dort eine Schüssel Cornflakes mit Milch schnappt. Hä? Cool! Also habe ich ihm das am nächsten Morgen zuhause auch angeboten. Denn Cornflakes und Milch haben wir wirklich immer im Haus.
Jim schaute mich an, als sei ich wirklich von allen guten Geistern verlassen. Eine Mischung aus totaler Enttäuschung, absolutem Unglauben und auch einem Funken tiefer Verachtung. Mit besonders empörtem Unterton lies er mich wissen: „Hey, Mama, nein! Das gehta nich! Wo’s Knätteproo un Apfel? HEY!!“. Okay, es war zumindest ein Versuch. Also wieder Apfel und Schoko-Toast, schön angeordnet in einem bestimmten Muster auf dem Teller. Kaum im Kindergarten angekommen, griff Jim dort wieder zur Cornflakes-Schüssel. Seufz. Nachmittags erzählte mir die Pädagogin, Jim hätte sogar ein Stück Gurke probiert. Und Karotte. Selbst Weintrauben. Und überhaupt: dort isst er den Salat. What? Ich musste meinen Aktionismus schwer zügeln, nicht gleich wieder alles einzukaufen, das er ja dann zuhause doch nicht isst. Aber es gibt mir ein ganz gutes Gefühl, dass er im Kindergarten – ganz freiwillig, das ist sichergestellt – zumindest das ein oder andere doch mal probiert. Ein ziemlich großes Ding, wie ich finde.
Druckfrei essen
Natürlich wäre es mir lieber, Jim wäre flexibler beim Essen. Aber total unflexibel ist er irgendwie auch nicht. Da ist es wieder, das Weder-Noch-Kind. Und so haben wir das eigentlich ganz gut im Griff. Wenn wir essen gehen, dann eben in Restaurants, in denen er ein paar Pommes oder Pizza bekommen kann. Und zuhause bin ich gar nicht traurig, dass Kartoffeln für Jim nicht in Frage kommen (außer in Form von Pommes). Denn wenn es etwas gibt, was ich besonders langweilig finde und wirklich nicht gern esse, dann sind das Kartoffeln. Was in einem deutsch-belgischen Haushalt durchaus zu Spannungen führen kann.
Mir ist wichtig, dass Jim ein positives Gefühl zu Essen hat. Niemals muss er etwas essen, was er nicht möchte. Und ja, an manchen Tagen gibt es wirklich nur Äpfel und Schokokekse. Wenn mich dann das schlechte Gewissen plagt, denke ich gern an die Frau des Kinderarztes und murmel „fed is best!“ vor mich hin. Irgendwas Gesundes wird in den Schokokeksen schon drin sein.
Das kann ich gut nachvollziehen. Bei meinem Sohn müssen immer die gleichen Lebensmittel kombiniert werden, da geht nur ein bestimmter Aufstrich mit einer bestimmten Brotsorte oder bestimmte Nudelformen mit einer bestimmten Sauce. Und im Urlaub isst er dann auch mal Sachen, die zu Hause niemals gehen würden. Und immer wenn mal eine neue Speise dazu kommt, fällt eine andere weg. Mehr als 7 verschiedene warme Speisen sind es nicht, die er isst. Geht sich gerade mal für eine Woche aus…