Es weihnachtet so mittelmäßig

Es weihnachtet so mittelmäßig

01/12/2020 12 Von Marison

Jetzt ist es wieder so weit: Besinnliche Stunden mit der Familie, gemütliches Plätzchenbacken, fröhliches Liedersingen. Da wird es kuschelig zuhause, die Lichterketten werden aus der Versenkung geholt und alle Kerzen aufgestellt, die man finden kann. Wer das volle Programm braucht, zieht sich in einer Endlosschleife Kevin allein zuhause oder sämtliche Sisi-Filme rein und kommt im trauten, vollgeschmückten Heim zur Ruhe. Hat man sich schließlich auch redlich verdient nach so einem Jahr.

Kokosraspel und Sternausstecher

Vor zwei Jahren habe ich das erste Mal versucht, Jim vom Plätzchenbacken zu überzeugen. Schließlich lieben das alle Kinder. Bei uns? Vollkatastrophe. Ein einziges Desaster. Der Anblick Jim Plätzchendes Ausstechers hat Jim in nackte Panik versetzt. Der Teig war keine Schokolade, das Mehl zu mehlig. Und überhaupt, was soll der ganze Blödsinn? Gut, hab ich halt gebacken, als Jim im Bett war. Dass Jim sich so überhaupt nicht dafür begeistern konnte, hat mir damals mehr zugesetzt als ich zugeben möchte. Und gegessen hat er die Plätzchen auch nicht. Doppelte Ohrfeige. Schönen Dank auch! Letztes Jahr war ich so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass ich das Nudelholz gar nicht erst ausgepackt habe. Und mein Stolz war vom Jahr davor auch noch ordentlich angeknackst. In diesem Jahr starte ich einen neuen Versuch, mit einem gravierenden Unterschied: ich habe keine Erwartung an Jim. Das Ergebnis: vor in paar Tagen kam Jim in die Küche, kletterte auf seinen Hocker und stach zwei Sterne aus. Dann klatschte er in die Hände, erklärte seine Arbeit mit „uun fäätich“ für erledigt und verließ mein Kokosraspel-Schokomürbteig-und-zuviel-Mehl-Schlachtfeld. Das war gerade genug Zeit, um ein Foto zu machen. Wahrscheinlich werde ich es rahmen lassen. Die zwei zerdatschten Mürbteig-Sternchen sind mein Weihnachtserfolg 2020!

Ohne Schokolade geht gar nichts

Im ersten Plätzchenjahr, also vor zwei Jahren, hatte ich Jim einen Adventskalender gebastelt. Eine gute Mischung aus Schokolade und ein paar kleinen Geschenken. Das Prinzip (nur ein AdventskalenderPäckchen am Tag) hatte er schnell kapiert. Erstaunlicherweise gab es da überhaupt kein Problem. Die Herausforderung bestand viel mehr darin, dass Jim furchtbar enttäuscht war an den Tagen, an denen keine Schokolade drin war. Da gab es viele Tränen, große Adventsdramen und wenig Weihnachtsstimmung. Wie ein Rumpelstilzchen hat er getobt. Weshalb ich nach dem ersten Ausraster nicht auf die Idee gekommen bin, noch schnell Süßes in die übrigen Säckchen zu tun, weiß ich nicht. Sicher nicht meine hellste Glanzstunde. Letztes Jahr haben uns Freunde einen Schlümpfe-Adventskalender mit ganz normaler Schokolade drin geschenkt. Der war der Hit! Und weil ich aus dem Zuwenig-Schokolade-Desaster gelernt habe, aber trotzdem mein eigenes ästhetisches Empfinden bedienen möchte, gibt es dieses Jahr wieder einen Selbstgebastelten. Auch mit ein paar kleinen Geschenken, aber ich bin smart genug, jeden Tag auch ein bißchen Schoki dazu zu tun. Sicher ist sicher!

Nikolaus in Ungnade

Beim letzten Baumschmücken war Jim vor allem damit beschäftigt, die sorgsam platzierten Kugeln wieder abzunehmen und ganz ordentlich in die richtige Schachtel zu legen. Es war ein sehr langer Nachmittag. Und Stiefel putzen wir auch nicht am 5. Dezember. Denn der Nikolaus hat gelernt, dass er von Jim zur persona non grata erklärt wird, wenn er den Schuh woanders hinstellt als an seinen Stammplatz. Und Schokolade gehört schonmal überhaupt nicht da rein! Das soll der Nikolaus lieber nicht nochmal versuchen. Er kann den ganzen Krimskrams einfach zu dem anderen Schnickschnack auf den Couchtisch stellen. Das ist quasi rechtsfreier Raum.

„Liebes Christind, ich bin… Speed!“

Heilig Abend wird dieses Jahr aus verschiedenen Gründen anders. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, soll es schön werden. Ob Jim das Konzept von Weihnachten begreift, wissen wir nicht. Aber dass es eine magische Zeit ist, das spürt er. Er wird uns kein Gedicht aufsagen und auch nicht auf seine Geschenke stürzen, es sei denn es ist eine Filmsequenz aus Cars oder das Geschenkpapier ist von Lightning McQueen. Und ziemlich sicher wird er wenig Interesse an den ausgepackten Päckchen haben, die liegen bei uns immer erstmal ein paar Monate rum, bis er sich ganz plötzlich dafür interessiert. Sollte er doch Interesse am Auspacken haben, dann soll das Geschenkpapier-Gemetzel losgehen, egal ob schon Bescherung ist oder nicht. Das Christkind kontrolliert ja nach der Auslieferung nicht mehr, wann man auspacken darf. Und mal ehrlich: es ist für alle entspannter, wenn Heilig Abend Jims Takt schlägt.

Enttäuschung vermeiden

Die Sache mit der eigenen Erwartungshaltung ist tricky. Und betrifft sicher nicht nur Eltern von autistischen Kindern. Wie oft habe ich Jim in Situationen geworfen, mit denen er gar Baum schmückennicht umgehen konnte? Wie oft hatte ich den Wunsch, dass Jim sich über etwas freut, weil ich mir besonders viel Mühe gegeben hatte oder weil Kinder sich eben über sowas freuen. In neun von zehn Fällen war die Enttäuschung danach groß. Bei mir. Weil Jim eben eine eigene Wahrnehmung hat. Seine Aufgabe ist nicht, meine Erwartungshaltung zu erfüllen. Ich sollte einfach keine an ihn haben. Ich sehe sie schon vor mir, die erhobenen Zeigefinger: „ja, aber, keine Erwartungen an Kinder zu haben, ist doch gleichzusetzen mit Gleichgültigkeit!“ Keinesfalls! Mir ist das alles überhaupt nicht egal. Keine Erwartung an Jim zu haben bedeutet für mich, dass ich keinen Druck auf ihn ausübe. Dass er selber entscheiden kann, ob er an etwas Spaß hat oder nicht. Und auch zu akzeptieren, wenn etwas, was mir sehr wichtig ist, für ihn keine Rolle spielt. Das heißt auch, dass man sich mit sich selbst auseinander setzen und reflektieren muss, ob man etwas uneigennützig für sein Kind macht oder für sich selbst. Und man tut gut daran, denn nichts nagt so lange an einem selbst wie die enttäuschte eigene Erwartung.

Und deshalb ziehe ich mir jetzt die fieseste Weihnachts-Playlist rein, streu ordentlich Zimt auf meinen Milchkaffee, zupfe nochmal die Tannenzweige am Adventskalender zurecht und google die beliebtesten Weihnachtsplätzchenrezepte 2020, bis Jim wieder aus dem Kindergarten kommt und mir mit einem selbstbewussten „nein okay“ die imaginäre Wichtelmütze vom Kopf reißt. It’s the most wonderful time of the year…