
Erkenntnisreiche Ohrenschmerzen
Es ist kurz nach Mitternacht. Ich höre es rumpeln in Jims Zimmer. Ah, Vollmond, denke ich. Da werden die Nächte bei uns mehr wach als schlafend verbracht. So auch dieses Mal, aber der Vollmond war nicht schuld. Die Tür zu unserem Schlafzimmer geht auf und mit einem herzerweichenden Wimmern krabbelt Jim, warm wie ein Heizpilz, in unser Bett. „Mamaaaa, Mamaaaaa, auaa! Auaaa Oooohwen!“ Oh no…
Ausgedünnte Hausapotheke
Jim ist verhältnismäßig selten krank. Er verfügt außerdem über eine hohe Schmerztoleranz, was bei Autist*innen durchaus vorkommen kann. Wenn er nicht wie ein Glühwürmchen vor Fieber glüht oder sich sichtbar wehgetan hat, bekommen wir oft gar nicht mit, dass etwas ist. Und weil eben so selten etwas ist, ist unsere Hausapotheke für Jim ziemlich dünn befüllt. Nachdem ich mal kiloweise Kindermedikamente zum Entsorgen in die Apotheke geschleppt hatte, war ich fest entschlossen nur noch dann welche zu besorgen, wenn es nötig ist. Auch nicht wirklich clever, denn nie – wirklich nie – kommen Krankheiten zu regulären Apothekenöffnungszeiten. Wirklich, manchmal denke ich auch nur von Wand bis Tapete.
So steht also dieser kleine Junge vor mir und weint und weint und weint, weil ihm die Ohren so schrecklich wehtun. Mich packt nicht nur das schlechte Gewissen, sondern auch großes Mitgefühl, denn wer mal eine Mittelohrentzündung hatte, weiß: Ohrenschmerzen kommen direkt aus der Hölle. So richtig fies.
Ich wühle durch die ausgedünnte Medikamentenbox und kann doch noch eine Packung Schmerzmittel-Zäpfchen finden, zwar nur die Baby Edition, aber besser als nix, denke ich. Zäpfchen gehören nicht zu Jims Favoriten, aber in seinem Zustand lässt er es über sich ergehen. „Gleich wird’s besser, mein Schatz, gleich wird’s wirklich besser, versprochen!“ tröste ich ihn, während er sich tapfer durch den Schmerz kämpft. Nach einer halben Stunde merke ich, dass die Baby Edition zu Recht eine Baby Edition ist und bei einem Fünfjährigen nicht viel mehr ausrichtet als meine tröstenden Worte. Alles klar, Doktor Google, jetzt bist Du dran!
Wunderwaffe Zwiebel. Wirklich?
„Hausmittel Ohrenschmerzen“ tippe ich ein und werde schnell fündig: Wunderwaffe Zwiebel! Einfach eine Zwiebel kleinhacken, in ein Handtuch geben und auf das Ohr drücken. Soll schnelle Linderung bringen. Also stehe ich mitten in der Nacht in der Küche und schnippel Zwiebel. Den Rest der Nacht verbringen wir halbwach im Zwiebeldunst mit brennenden Augen. Jim weint mal mehr, mal weniger manchmal nickt er erschöpft für ein paar Minuten ein bis ihn das blöde Ohr wieder zwickt. Wirklich geholfen hat die Zwiebel auch nicht mehr als das Baby-Zäpfchen. Für’s nächste Mal weiß ich das.
Am nächsten Morgen stürme ich die Apotheke, sodass Jim mit wirksameren Dingen versorgt wird. Es geht ihm schnell besser. Kinder bringen solche Sachen ja meistens sehr viel schneller hinter sich als Erwachsene. Nach drei Tagen ist er wieder fit und kann es kaum erwarten in den Kindergarten zu gehen. Wir alle! Diese eine durchwachte Nacht hat mir neben Augenringen und einem schlechten Gewissen auch zwei Erkenntnisse beschert:
Erste Erkenntnis: es ist wieder viel passiert
Lange Zeit konnten wir nicht wissen, ob Jim etwas wehtut oder nicht, weil er es nicht artikulieren konnte. Gebetsmühlenartig habe ich mit ihm Körperteile geübt: wo ist die Nase, wo sind die Zähne, zeig mir deine Knie und so weiter. Vor einigen Monaten hat Jim angefangen, uns zu sagen, wenn er ein Aua hat. Aber wirklich lokalisieren konnte er es nicht. Es war einfach immer alles „aua Bauch“, selbst wenn es woanders wehtat. Zumindest wussten wir dann, dass ihm was wehtut, aber die Suche ging trotzdem weiter.
Die Tatsache, dass Jim mit „aua Ohren“ nachts in unserem Schlafzimmer stand, ist großartig! Denn es war das erste Mal, dass er ganz gezielt sagen konnte, wo es ihm wehtut. Zum einen zeigt es, dass Jim in seiner Kommunikation einen Riesenschritt gemacht hat. Zum anderen hat sich auch eine Menge in seiner Wahrnehmung getan. Er konnte den Schmerz lokalisieren. Und dann hat er beides zusammen gebracht. Ich kann gar nicht oft genug sagen, wie unfassbar hilfreich das für uns ist. Freud’ und Leid liegen eben oft nah beieinander.
Zweite Erkenntnis: gut gemeint ist nicht immer gut
Die zweite Erkenntnis ist eher eine Selbstreflexion. Während ich so da liege mit Zwiebelgeruch in der Nase und dem viel zu warmen Fieberknäuel neben mir, höre ich mich also andauernd sagen „gleich wird’s besser!“. Und auf einmal katapultiert es mich fünf Jahre zurück. In den Kreißsaal. Immer dann, wenn die Wehen ihren absoluten Höhepunkt erreicht haben, höre ich Ollie oder die Hebamme sagen „gleich wird’s wieder besser, es ist gleich vorbei!“. Und immer in genau diesem Moment wünsche ich mir, ich könnte mich bewegen, um die beiden am Kragen zu packen und ihnen ein saftiges „haltet doch mal die Klappe!“ ins Gesicht zu brüllen. Kann ich aber nicht, ich kann nur sehr konzentriert atmen und vor mich hin wimmern. Eine reichlich seltsame Erinnerung. Und so stelle ich mir vor, dass Jim genau dieses Bild im Kopf hat: wie er mich am Kragen packt und mit kräftiger Stimme sagt „Mama, halt doch mal die Klappe!“ Ich muss mir diesen beknackten Satz dringend abgewöhnen, er ist wenig hilfreich. Tatsächlich hilft er – wie so oft – nur der Person, die ihn sagt.