Emotionskeule – Wenn die Gefühle übernehmen
Es gibt ja wirklich für alles Ratgeber rund um das Thema Kinder kriegen. Ernährung, Erziehung, schlafen, wickeln, stillen, Bauchweh… man kann Baby-Erste-Hilfe-Kurse buchen, zu Gesprächskreisen und PEKiP-Gruppen gehen. Alle Themen sind abgedeckt. Bei einem Thema hätte ich mir allerdings gewünscht, ich wäre besser vorbereitet gewesen. Nämlich wenn die Emotionskeule mit brutaler Wucht zuschlägt. Ich nenne das auch „gefühlsüberfordert“. Und das ist mein Dauerzustand seit der Schwangerschaft mit Jim.
Heulen, heulen, immer nur heulen
Solange ich schwanger war, konnte ich mir zumindest sagen: hey, das sind die Schwangerschaftshormone. Es ist völlig normal, dass du bei der Waschmittelwerbung heulst. Ich meine, warum ist da auch ein Hundewelpe zu sehen? Ich konnte von himmelhoch jauchzend über vor Rührung weinen bis zu Tode betrübt in null Komma acht Sekunden switchen. Mehrmals am Tag. War sicher nicht lustig für mein Umfeld, aber für mich auch nicht. Es ist seltsam, wenn man sich selbst so gar nicht im Griff hat und nicht recht weiß, was mit einem geschieht.
Sobald das Kind auf der Welt ist, kann man sich die Gefühlsausbrüche, die einen da so überkommen, auch noch irgendwie erklären. Irgendwas wird Mutter Natur sich dabei gedacht haben. Viele durchlaufen ja eine richtige Krise, wenn sie abstillen. Das hatte ich nicht. Aber ich saß rotzverheult da, als ich zum ersten Mal Jims Wechselklamotten für den Kindergarten gepackt habe.
Ich dachte, dass irgendwann mein Normalnull wieder einsetzt, sich das mit der Emotionskeule irgendwann mal legt. Bis jetzt ist das nicht der Fall. Und mir dämmert langsam, dass es wohl wirklich ein Dauerzustand bleiben wird, mit dem ich lernen muss zurecht zu kommen. Andauernde Gefühlsüberforderung, immer zu viel von allem. Ich weiß nicht, ob es auch an Jims Diagnose liegt oder ob es allen Eltern so geht, also auch denen mit neurotypischen Kindern. Ich habe ja keinen Vergleich, ich habe kein neurotypisches Kind. Drei Gefühlszustände empfinde ich jedenfalls um ein Vielfaches heftiger als früher.
Immer in Sorge: die Helikoptermutter
Niemals wollte ich die Mutter werden, die immer direkt am Klettergerüst steht und aufpasst, dass das Kind nicht nur heil hoch sondern auch wieder runter kommt. Und niemals wollte ich die Mutter werden, die sich vor dem Kindergarten versteckt, um zu schauen, ob das Kind beim Ausflug auch brav in der Zweierreihe läuft. Und ganz sicher niemals wollte ich die Mutter werden, die ihr Kind zwingt, an der Hand zu gehen. Oder die Mutter, die jeden Tag im Kindergarten fragt, ob eh alles okay war und mit wem das Kind heute gespielt hat. Ich bin alle vier geworden. Ich bin der Helikoptermutter-Jackpot. I tick all boxes. *seufz*
Das kommt aber auch nicht von ungefähr. Wenn das eigene Kind sich schwer tut beim Einschätzen von Gefahren, Abständen und Höhen, und vielleicht auch motorisch nicht ganz so sicher ist wie andere Kinder, dann sieht man im Klettergerüst eben nicht nur ein Klettergerüst, sondern einen wilden Haufen Unfallpotenzial.
Ich vertraue auf das, was Jims Pädagoginnen sagen: dass er bei Ausflügen in der Gruppe bleibt und sich an alle Regeln hält. Wäre das nicht so, würden sie ihn aus Sicherheitsgründen nicht mitnehmen. Trotzdem postiere ich mich an manchen Tagen für Jim unsichtbar vor dem Kindergarten, um das mit eigenen Augen zu sehen. Und ja, Jim MUSS mit mir an der Hand gehen. Denn auch hier kann er die Gefahr nicht einschätzen und ist schneller auf die Straße gesprungen, als ich ihn festhalten kann. Der Schreck sitzt jedesmal tief. Und er hält lange an. Das Kopfkino kann man schlecht ausschalten. Ich habe einfach Sorge, dass er vor ein Auto läuft. Und wisst ihr: ich frage fast täglich, mit wem Jim im Kindergarten gespielt hat. Er kann es mir nicht erzählen. Und ich möchte ganz, ganz, ganz sicher gehen, dass er nicht allein ist oder ausgegrenzt wird. Ich will, dass es ihm gutgeht und er sich niemals als Randgruppe fühlt.
Wenn’s läuft: Glücksgarantie
Freude. Das Gefühl mit Glücksgarantie. Alle Eltern kennen das. Es setzt immer dann ein, wenn das Kind etwas zum ersten Mal macht. Das erste Lächeln, die ersten Schritte, das erste Mal Mama sagen… alle Meilensteine eben. Für uns kommen diese Momente oft zeitverzögert. Manchmal glauben wir gar nicht mehr dran und dann passiert es doch plötzlich. Dann ist die Freude darüber so groß, dass man es am liebsten in die Welt hinaus brüllen, allen davon erzählen möchte. Ich mache das andauernd. Wahrscheinlich nerve ich auch damit. Aber vieles ist für uns eben nicht selbstverständlich. Und oft haben wir sehr lange daran und darauf hin gearbeitet. Es fühlt sich dann an wie ein High, die gute Laune muss einfach raus. Wer noch nie monatelang etwas üben musste, kann das wahrscheinlich auch nicht nachvollziehen. Der Moment, als Jim zum ersten Mal ganz selbstverständlich den Fahrradhelm aufgesetzt hat, hat sich eingebrannt bei mir. Oder als er zum ersten Mal situationsgerecht gescriptet hat, um sich mitzuteilen. Oder wenn er einen Therapeut*innenwechsel ganz cool mitmacht. In diesen Momenten bin ich stolz wie Bolle auf ihn und auf alles, was wir mit Jim schon geschafft haben. Da könnte ich heulen vor Freude, Glück und Erleichterung.
Wenn es anders kommt: Trauer
Das Gefühl, das man sich am wenigsten gern eingesteht oder vor anderen zugibt, ist Trauer. Ich halte die Trauerphase für unglaublich wichtig, auch wenn sie wirklich nicht angenehm ist. Mit einem Kind ändert sich das Leben enorm. Mit einem autistischen Kind ändert sich aber auch der Lebensentwurf, den man sich – bewusst oder unbewusst – so feinsäuberlich zurecht gelegt hatte. Vieles, was man vorher als selbstverständlich angesehen hatte, geht plötzlich nicht mehr oder ist einfach mit hohem Planungsaufwand verbunden. Dinge, auf die man hingefiebert hat, laufen nicht im Ansatz so ab, wie vorgestellt. Und ehrlich: es ist echt okay, wenn man traurig ist, dass das Laternenfest kein Highlight für das eigene Kind ist und man nach dem Pflichtprogramm nach Hause düst, weil sich die Reizüberflutung mit großen Schritten anbahnt. Oder wenn der Geburtstag nicht mit einer fetten Kinderparty gefeiert wird, weil statt Showdown am Ende ein Meltdown gewiss ist.
Unterwegs ohne Navi
Ich lerne immer besser, mich auch mal zu ducken, wenn die Trauerkeule schwingt. Nicht immer erwischt sie mich volle Breitseite. Und wenn doch, dann erinnere ich mich immer selbst daran, dass der Auslöser des Traurigseins kein Versagen von Jim ist. Es gibt ja auch nichts zu gewinnen. Es hat nichts mit ihm zu tun, sondern einzig und allein mit mir und meiner Erwartung an das Muttersein. Vielmehr mit meiner enttäuschten Erwartung. Ent-täuscht, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich bin ein Mensch, meine Empfindung steht mir zu, auch wenn sie nicht für jede*n nachvollziehbar ist und gerne auch mit einem „ja, jetzt hab dich nicht so“ quittiert wird. Es braucht eine ganze Menge Kraft und Mut, um den jahrelang gepflegten Lebensentwurf zu adaptieren. Der war nämlich in Stein gemeißelt, denn wer geht schon davon aus, dass es manchmal wirklich anders kommt, als man denkt? Das passiert doch eh nur den anderen, glaubt man. Wenn man genau hinsieht, erkennt man aber auch das Schöne und Spannende. Und so entsteht ein neuer Lebensentwurf, der sich wie ein Abenteuer anfühlt. Wie ein Roadtrip ohne Navi. Mal schauen, wo wir überall vorbeikommen. Mit jedem Halt wird die Freude ein bißchen größer und die Trauer kleiner. Bis sie ganz verschwunden ist. Nur die Sorge, die wird uns wohl länger begleiten.
Ich habe mich nun schon durch viele Instagram-Storys und Profile gelesen, mal mit mehr und mal mit weniger gutem Gefühl. In Deinen Worten hab ich mich so sehr wiedergefunden und das ohne schlechtes Gefühl hinterher. Dankeschön 💕
Ich werde weiterlesen
Ganz lieben Dank! Das freut mich sehr. Kommentare wie Deiner sind die schönste Bestätigung für mich, dass es die richtige Entscheidung war, mit dem Schreiben loszulegen. ❤️