Eine Frage der Geduld

Eine Frage der Geduld

15/12/2022 2 Von Marison

Wenn ich mit einer Tugend nicht ausgestattet bin, dann ist das Geduld. Habe ich nicht. Typisch Widder, könnte man sagen. Ich will alles, jetzt sofort, mit dem Kopf durch die Wand. Das kann oft Kopfschmerzen bedeuten, wenn die Wand standhaft ist. Bis vor einigen Jahren war das nie wirklich ein Problem. Mein Enthusiasmus hatte dafür gesorgt, dass ich beruflich das erreicht hatte, was ich mir vorgenommen hatte. Auch sonst lief zwar nicht immer alles glatt, aber zumindest auch nicht ganz schlecht. Und dann bin ich Mutter geworden. Das hat meine (Un-)Fähigkeit geduldig zu sein auf eine harte Probe gestellt, in vielerlei Hinsicht. 

Warten macht etwas mit der Seele

Mit Jim hat sich in meinem Leben sowieso viel verändert. Ist ja klar. Und dass Kinder erstmal lernen und nicht alles sofort können, ist auch klar. Dass es eine andere Form von Geduld bei einem neurodivergenten Kind Jim spieltbraucht, war mir tatsächlich nicht klar. Aber man lernt ja nie aus. Ich meine damit gar nicht, dass Jim besonders langsam gewesen wäre. War er auch nicht. Sondern vielmehr: die Dinge passierten nicht dann, wann sie bei anderen Kindern in seinem Alter passierten. Hier lesen sicher viele Eltern mit, deren Kinder auch erst spät  – oder vielleicht auch gar nicht – angefangen haben zu sprechen. Das Warten auf das erste „Mama“ kennen alle Eltern. Wie es sich anfühlt, wenn es einfach nicht kommen mag, kennen nicht alle. Die Ungeduld, das Hoffen, das Warten. Das macht was mit der Seele.

Was Jim betrifft, habe ich mit meiner Ungeduld Frieden geschlossen. Sie ist noch immer da, aber nicht mehr so präsent. Die Dinge passieren, wenn sie passieren. Ich habe gelernt, mich freizumachen von gesellschaftlichen Standards. Und mich selbst zu fragen, warum ich etwas so unbedingt jetzt möchte, wenn ich ungeduldig werde. In der Regel bringt allein das Nachdenken darüber schon etwas Ruhe rein. Besonders intensiv denke ich darüber nach, wenn Jim sich mal wieder auf den Gehsteig setzt und keine Lust hat weiterzugehen. Weil das meistens länger dauert, habe ich also auch genug Zeit, um diese Frage sehr ausführlich für mich selbst zu beantworten. Warten ist auch lähmend.

Lichterloh

Es gibt allerdings auch Bereiche, in denen ich meine Ungeduld tatsächlich null im Griff habe. Nämlich bei allem Bürokratischen und Administrativen rund um Jims Diagnosen. Das betrifft überhaupt nicht seine Diagnosen direkt oder ihn als Person. Sondern das System, das eigentlich Unterstützung und Entlastung bieten soll und letztlich nur noch mehr Stress verursacht. Das System, das zielsicher alle im Regen stehen lässt (rw), die Hilfe brauchen. Bildlich gesprochen: da stehen viele Menschen, die lichterloh brennen und mit den Armen nach Hilfe wedeln, während der Staat an ihnen vorbeigeht und fröhlich zurückwinkt, aber das Feuer nicht löscht.   

Von versprochener Hilfe

Ich habe monatelang auf Antwort des Sozialministeriums gewartet, ob Jim überhaupt begutachtet wird für die erhöhte Familienbeihilfe. Um dann nach der Begutachtung nochmal Monate auf den Bescheid zu warten. Ich warte mehrmals im Jahr auf Rückzahlungen der Krankenkasse für Jims Therapie, bei der wir immer erstmal in finanzielle Vorleistung gehen müssen. „Wann haben Sie eingereicht? Vor 3 Monaten? Ja, wir bearbeiten jetzt gerade die Anträge von vor 6 Monaten. Das dauert noch!“. Ich warte seit Wochen auf den Bescheid von der Pensionsversicherung, ob es diesmal mit dem Pflegegrad geklappt hat. Ich warte und warte und warte. Darauf, dass irgendeine Stelle mal die Hilfe leistet, die sie verspricht.

Vor einiger Zeit bekam ich einen Anruf vom SPZ, in dem mir mitgeteilt wurde, dass man uns jetzt – über 2 Jahre nach der Anfrage!! – von der Warteliste streichen würde, weil man in absehbarer Zeit keinen Platz anbieten könne. Schließlich gäbe es Fälle, die die Plätze dringender bräuchten. Diese Einschätzung fand ich spannend, hatte sich doch niemand jemals Zeit für Jim und uns genommen, um die Dringlichkeit überhaupt einschätzen zu können. Und nicht zu vergessen all die Stunden, die man in sämtlichen Ambulanzen wartet, obwohl man einen Termin um 8 Uhr hatte. Nur um festzustellen, dass die Hundertschaft Patient*innen, die auch im Wartebereich sitzt, auch um 8 Uhr zum „Termin“ einbestellt wurde. Das ist keine Kritik an den Ärzt*innen und Pfleger*innen. Sie können auch nur das leisten, was sie können. Es ist Kritik an einem System, das nicht hält, was es verspricht. Auf dem Rücken derjenigen, die eh schon aus dem letzten Loch pfeifen (rw).

Wütend, müde, beides

Ich bin mütend. Oder wüde. Je nachdem. Mal mehr das eine, dann wieder das andere. Ich bin desillusioniert und enttäuscht. Ja, richtig ent-täuscht. Wenn es schon keine wirklich Stelle gibt, die Eltern in all dem administrativen Chaos unter die Arme greift (rw) und sie das alles selbst recherchieren müssen, dann wünsche ich mir doch sehr, dass es dann einigermaßen zügig geht. Wer sich die Mühe macht, sich all das selbst anzueignen, macht das in der Regel, weil es nötig ist, nicht weil es Spaß macht. Neben all dem mental load, der sonst noch ansteht. 

Und noch eine Perspektive: je länger ich warten muss, desto mehr fühle ich mich in die Rolle der Bittstellerin hineingepresst. Manchmal ist die Hilfe wirklich dringend nötig. Zum Beispiel Rückzahlungen der Krankenkasse, um die nächsten Therapieeinheiten überhaupt bezahlen zu können. Fragt man höflich nach dem Stand der Dinge, wird man meist ziemlich genervt abgeschmettert. Ja, guess what, Beate, mir wär’s auch lieber, ich müsste gar nicht bei euch in der WARTEschleife hängen. Mein Bedarf an Warten ist auch ohne euch schon gedeckt! Und trotzdem muss ich jetzt bei dir betteln, dass ihr meinen Antrag zügig bearbeitet, weil mein Kind sonst nicht die Unterstützung erhält, die es braucht. Und übrigens, es ist kein Versagen meinerseits, dass Kassenplätze nicht verfügbar und Wartelisten voll sind und wir deshalb die private Nummer machen müssen. Also mach mir bitte nicht noch ein Problem.

Jim mit RollerEigentlich schreibe ich diesen Text in der Hoffnung, dass heute der Bescheid der Pensionsversicherung endlich im Briefkasten liegt. Weil ich gelernt habe, dass Dinge immer dann passieren, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnet. Vielleicht fordere ich auch das Schicksal damit heraus. Egal wie – ich will einfach nicht mehr warten müssen. Denn beim nächsten „das dauert!“ vergesse ich mich und ramme – ganz Widder-like – alles nieder.