Ein Zeitvertreib mit Folgen

Ein Zeitvertreib mit Folgen

04/01/2021 7 Von Marison

Ich habe am 23. Dezember einen Fehler gemacht. Oh man, ich hätte es besser wissen können. Müssen. Jetzt muss ich die Suppe auslöffeln, die ich mir selbst eingebrockt habe. Wünscht mir Glück, dass es sich nur um ein paar Wochen handelt, nicht Monate, bis der Normalzustand wieder hergestellt ist.

Jim war immer ein eher gemütlicher Junge. Er fand seinen Kinderwagen ziemlich praktisch und bequem und hat von selbst nie Anstalten gemacht, freiwillig zu laufen. Wenn die Kinder Jim Straßenoch ganz klein sind, ist so ein Teil ja auch super. Aber irgendwann hat man es auch einfach satt, immer mit diesem Riesentrumm durch die Gegend zu latschen. Auch wenn man sie ganz klein zusammenklappen kann, nehmen sie trotzdem überall Platz ein. Zuhause, im Auto, in jedem Supermarkt, einfach überall. Als Jim zweieinhalb war, haben wir beschlossen, uns nicht mehr die Hölle des Kinderwagenabstellraums im Kindergarten anzutun. Ich wüsste gern, warum es für Erwachsene so schwierig ist, sich an eine ganz simple Regel zu halten: klappt das Teil zusammen und stellt es so rein, dass neben eurem superfancy Bugaboo Donkey2 Duo Komplettset ein stinknormaler, zusammengeklappter Kinderwagen auch noch reinpasst. Wir hatten das Biggy-Tetris einfach satt und haben deshalb von da an Jim nur noch ohne Kinderwagen zum Kindergarten gebracht, ein Fußweg von fünf Minuten. Wenn er keine Lust hatte zu gehen, dann war er noch leicht genug, dass man ihn die paar Meter tragen konnte. Ich gebe zu, dass Ollie da viel konsequenter war als ich. Er hat sich von Jim nicht so schnell um den Finger wickeln lassen. Ich habe meistens schnell aufgegeben und Jim auf den Arm genommen, wenn es mir nicht schnell genug ging.

Dann halt mit Rollen

Dann kam die Phase, in der Jim die Farben für sich entdeckte. Er konnte die Farben zwar noch nicht sagen, wollte sie aber von uns hören. Also ist er bei jedem Auto stehengeblieben, Jim Rollerhat darauf gezeigt und gewartet, bis wir gesagt haben: „das ist ein schwarzes/blaues/rotes Auto.“ Dann war das nächste Auto dran. Weil man so nur sehr langsam ans Ziel kommt, haben wir Jim alle für Kinder verfügbaren Fortbewegungsmittel mit Rollen besorgt. Das Laufrad fiel ziemlich schnell aus, weil Jim sich bis heute beharrlich weigert, einen Helm aufzusetzen. Falls jemand einen heißen Tipp für einen Fahrradhelm hat, den man nicht unter dem Kinn zumachen muss, dann bitte her damit. Der Roller hat eine Zeit lang ganz gut funktioniert, damit kamen wir immer gut vorwärts. Jim hat allerdings eine Weile gebraucht, bis er mit dem Roller auch gefahren ist und ihn nicht nur umständlich geschoben hat.

Wenn wir den Roller mal nicht mitnehmen konnten, haben wir oft „Engelchen, Engelchen, fliiiiieg!“ gespielt. Das ging aber nur, wenn wir zu dritt unterwegs waren. War ich allein mit Jim auf der Straße, dann hat er sich meistens einfach auf den Gehsteig gesetzt. Das kennen aber sicher auch alle Eltern und ist nichts autismusspezifisches. In den vergangenen Monaten brauchten wir keine Hilfsmittel und auch kein Engelchen-Spiel. Jim ist super zu Fuß gegangen. Zum Supermarkt, zum Therapiezentrum, zum Kindergarten, überall eigentlich. Echt super. Alles war gut. Und dann habe ich einmal wirklich nicht nachgedacht.

Harmloser Zeitvertreib

Am 23. Dezember hatten wir mit Jim einen Termin beim Sozialministeriumservice. Das ist der trostloseste und unweihnachtlichste Ort, den man sich am Tag vor Heiligabend nur vorstellen kann.  Überall kleben Umweltpapierzettel mit wirren Anweisungen an den Türen, der graue PVC-Boden ist einfach nur grau und die MitarbeiterInnen sind mäßig motiviert. Der Termin war um 14.48 Uhr – amtlicher geht eine Uhrzeit wohl nicht -, und auf der Ladung stand fettgedruckt, dass man ein paar Minuten früher da sein soll, aber bitte nicht zu früh, damit nicht zu viele Menschen im Wartezimmer sind, aber auch bitte nicht zu spät, in jedem Fall also pünktlich. In einer Sache bin ich sehr deutsch: bei Amtsterminen bin ich überpünktlich. Bloß nicht zu spät kommen, sonst verfällt der Termin und man muss wieder Wochen warten. Jim und ich waren natürlich viel zu früh dort. Um mir keine Belehrung von der Dame an der Information abzuholen, dass doch in der Ladung steht, dass man nicht zu früh kommen soll,  mussten wir uns draußen noch ein wenig die Zeit vertreiben. Warten ist mit Kindern ja immer schwierig. Das ist mit Jim nicht anders. Geduldig warten ist wirklich nicht sein Talent. Also bin ich mit ihm um den Block geschlendert. Und weil die Zeit einfach nicht vorbei gehen wollte, musste ich ein – für Jim kurzweiliges – Spiel aus dem Hut zaubern. Buchstabieren!! Los, wir buchstabieren Autokennzeichen. Tolle Idee. Fand Jim übrigens auch. Zack, die Zeit war um, wir konnten zu unserem Termin und ich hatte mir ganz schön was eingebrockt.

Das habe ich nun davon

Für Jim werden Dinge schnell zur neuen Regel, wenn er sie gut findet. Und Kennzeichen buchstabieren fand er besonders gut. Das verbindet nämlich seine zwei großen Leidenschaften: Autos und Buchstaben. Was seitdem bei jedem Fußmarsch bei uns abgeht, könnt ihr euch vorstellen. Genau, wir bleiben bei jedem Auto stehen, Jim sagt die Farbe an und dann wird das Kennzeichen abgelesen. Und das Blöde ist: jedes Auto hat ja zwei Kennzeichen. Dass die beiden identisch sind, interessiert Jim dabei nicht. Ein paar Mal kann ich das gut ertragen, aber mitten in der Stadt sind eben viele Autos geparkt, da dauert ein Fünfminutenweg gern mal eine halbe Stunde.     

Jims Denkweise funktioniert anders als die von neurotypischen Menschen. Bei ihm kann man die wunderbare Wenn-Dann-Formel nicht anwenden. Für ihn bedeutet die nichts. Ich kann ihn also auch mit „wenn Du jetzt kommst, dann gehen wir noch zum Spielplatz“ nicht dazu bringen, schneller zu gehen oder das buchstabieren sein zu lassen. Ich kann nur hoffen, dass ein Müllauto ein Bagger oder ein Bus an uns vorbeifährt. Die findet Jim nämlich noch spannender als Kennzeichen buchstabieren. Für mich ist es eine Geduldsprobe. Ich kann nicht sauer auf ihn sein, denn für Jim ist das alles logisch. Wir gehen raus und buchstabieren drauf los. Wie beim letzten Mal. Er kann nicht unterscheiden, weshalb das manchmal geht und manchmal eben nicht. Um ihm das zu erklären, fehlt ihm noch das Sprachverständnis.

Also hilft nur: durchhalten. Irgendwann fällt mir ein schnelleres Spiel ein. Und bis dahin werde ich mich bei jedem Fußweg daran erinnern, dass wir uns immerhin bewegen, wenn auch langsam. Aber niemand hat behauptet, dass man immer schnell ans Ziel kommen muss.