Ein hinkender Vergleich

Ein hinkender Vergleich

17/01/2022 0 Von Marison

Letztens bin ich gefragt worden, wo Jim im Vergleich mit der Entwicklung neurotypischer Kinder steht. Ich habe lange darüber nachgedacht, denn ich habe mich schon relativ früh von solchen Vergleichen freigemacht. Da Jim mit uns und im Kindergarten in einem weitestgehend neurotypischen Umfeld aufwächst, komme ich nicht ganz drum herum, die Unterschiede zu bemerken. Ich gebe ihnen einfach nur keine besondere Aufmerksamkeit mehr. Wen die Eingangsfrage trotzdem interessiert, soll hier nun Antworten bekommen. Und wird wahrscheinlich schnell merken, dass der Vergleich hinkt. 

Sprechen wenn es nötig ist

Jim löchert mich nicht mit Warum-Fragen oder erzählt mir aufgeregt, was er alles im Kindergarten erlebt hat. Es fällt ihm schwer, mir etwas verbal mitzuteilen, was nicht existenziell für ihn ist. Er kann mir nicht sagen, wenn jemand gemein zu ihm war oder wenn er neue Freunde gefunden hat. Aber wisst ihr, was er richtig gut kann? Uns vermitteln, wenn er etwas braucht. Wenn Sprache ihn ans Ziel bringt, kann er sie sehr gezielt einsetzen. Weil er den Apfel noch nicht selbst schneiden kann, hat er gelernt: „Mama, noch mehr Apfel schneiden!“. Wenn der Hund nicht von selbst mit Jim in den Garten geht, meldet Jim bei mir an: „Mama, Bob auch Terrasse!“ als Aufforderung den Hund an die frische Luft zu zerren. Und wenn Jim richtig müde ist, dann kommt er zu mir, nimmt mich an die Hand und sagt: „Come on, Schlafanzug!“

Jim klettertHauptsache Bewegung

Jim kann noch nicht Fahrrad fahren oder schwimmen. Auf seinem Roller lässt er sich gern ziehen, anstatt selbst zu treten (smart!). Beim Klettern ist er eher vorsichtig. Überhaupt steht Jim gern mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Aber wisst ihr, was er kann? Jim kann großen Spaß in seiner wöchentlichen Turnstunde haben. Und auch wenn die gesprochene Anleitung für ihn nicht immer ganz verständlich ist, ist er immer mittendrin. Jim schaut nämlich ganz genau zu und probiert es dann selbst aus. Er bringt es sich selbst bei mit ein bißchen Unterstützung der Trainer*innen. Und wir feiern jeden Purzelbaum und Hampelmann mit ihm.

Stiftstreik

Jim kann noch keinen Kopffüßler malen. Oder gezielt alleine etwas mit der Schere ausschneiden. Von Stiften hält er sich fern. Ich glaube, dass eine Therapeutin es mal „zu gut“ gemeint hat mit der Malmotivation. Seitdem bekommt Jim sofort Stress, wenn man ihm einen Stift anbietet. Ich bin mir sicher, dass Jim das ganze Alphabet schreiben könnte, er hat es mich oft genug für ihn aufschreiben lassen. Solange er keinen Stift halten möchte, werden wir es nicht erfahren. Aber wisst ihr, was er tatsächlich sehr gut kann? Jim kann sehr konzentriert diese Mini-Bügelperlen ganz gezielt auf die Vorlage setzen. Und kann dabei enorme Konzentrationsfähigkeit und auch Sitzfleisch beweisen. Denn damit beschäftigt er sich gut und gerne eine Stunde. Dann wird halt bunt gebügelt statt gemalt.

Jim NintendoBrettspiel vs Videospiel

Jim kann sich für Gesellschaftsspiele nicht begeistern. Oder zumindest nur sehr mäßig. Und nach seinen Regeln. Die sind eher willkürlich. Das offizielle Regelwerk eines Spiels lehnt er ab. Sein Regal biegt sich aufgrund der Menge an Spielen. Die meisten werden wir wohl unbenutzt wieder abgeben. Aber wisst ihr, wofür Jim sich sehr begeistern kann? Für Computerspiele. Ganz konkret: Mario Kart. Egal auf welcher Konsole. Und das funktioniert so: Jim lässt uns wissen, dass wir spielen sollen, damit er ganz genau beobachten kann, wie es geht. Dann probiert er selbst aus. Und wenn er den Dreh raus hat, schnappt er sich YouTube und schaut sich dort ganz gezielt Tutorials an. Safe to say: nach ein paar Wochen hatte Jim schon mehr Tricks und Schleichwege raus als wir in drei Jahren.

Ein Hoch auf den Klettverschluss

Jim kann noch keine Reißverschlüsse zumachen, Schuhe binden oder Knöpfe schließen. Wir üben das noch. (An dieser Stelle ein Hoch auf den Gummizug und den Klettverschluss, ehrlich!) Das bedeutet, dass Jim noch ein wenig Hilfe beim Anziehen braucht. Aber wisst ihr, wobei Jim absolute Fingerfertigkeit in Perfektion beherrscht? Wenn es darum geht, den Ministecker zum Aufladen des Tablets einzustecken. Oder bei oben genannten Bügelperlen. Oder gern auch beim Rauspicken des kleinsten Speckstücks aus dem Essen. Da trifft Pinzettengriff auf Adlerauge. Manchmal stelle ich mir vor, er könnte damit eine steile Karriere als Uhrmacher hinlegen.

Von Apfel bis Zebra

Jim kann nicht verstehen, dass mein Name nicht Mama ist. Oder dass Papa gar nicht Papa heißt. Und er hat das Prinzip von Vor- und Nachname noch nicht verinnerlicht. Aber wisst ihr, was Jim aus dem FF beherrscht? Das Alphabet. Seitdem er drei Jahre alt ist. Vorwärts, rückwärts, auf Deutsch und auf Englisch. Und seitdem er vier ist, kann er die Buchstaben auch richtig zuordnen, also: „A is for apple, B is for banana“ usw. Bei Buchstabenspielen macht ihm niemand was vor. Ich könnte ihn nachts wecken und fragen: „U is for?“ Es käme wie aus der Pistole geschossen: „Umbrella, uuu uuuu umbrella!“ Rihanna-Ohrwurm? Gern geschehen!

Das eigene Tempo

Jim kann nicht lernen, indem wir ihm etwas beibringen. Und ich bin wirklich gespannt, wie das mal wird, wenn Jim in die Schule kommt. Denn bislang haben unsere Versuche, ihm etwas zu erklären, nicht gefruchtet. Aber wisst ihr, wie Jim richtig toll lernt? Wenn er sich etwas selbst beibringt. In seinem Tempo, zu dem für ihn richtigen Zeitpunkt. Durch reines Beobachten. Das musste ich auch erst lernen: ihn einfach zu lassen. Denn bis jetzt hat Jim alles noch gelernt. Nur eben nicht zu dem Zeitpunkt, zu dem es laut Entwicklungsplan an der Zeit gewesen wäre. Sondern dann, wenn er für sich beschlossen hatte, dass es der richtige Moment ist.

Was wär‘ hier los?

Versteht mich nicht falsch – Entwicklungspläne machen natürlich Sinn. Durch sie werden manche Diagnosen ja auch erst möglich. Ich verteufel sie nicht. Was mich nervt: Eltern, die mir gute Ratschläge geben und mir erklären, dass das mit dem Knopf aber mit fünf Jahren schon klappen muss. Oder dass wir die Spielekonsole wegtun und stattdessen lieber ein Brettspiel spielen sollen, damit Jim das lernt. Schließlich sind Brettspiele pädagogisch wertvoll im Gegensatz zu Videospielen. Es nervt mich, weil es übergriffig ist. Stellt euch vor, ich würde die Dinge, die Jim so von der Hand gingen, als die Norm verbreiten. Das hieße, ich würde anderen Eltern erklären: „Dein Kind will IMMERNOCH NICHT lange Autofahrten mit euch machen und schläft auch noch nicht durch? Wird aber echt mal Zeit!“ Oder: „What?? Euer Dreijähriger kann das Alphabet noch nicht im Schlaf runterbeten? Ihr solltet das wirklich üben. Vielleicht mal weniger Brettspiele und Basteln. Konzentriert euch aufs Wesentliche!“ Im Ernst, was wär‘ hier los?

Nix zu gewinnen

Ich erzähle das, um deutlich zu machen, dass der Vergleich nicht wirklich möglich ist. Denn, ja, es gibt viele Dinge, die Jim (noch) nicht kann, die fünfjährige Kinder angeblich können müssen. Gleichzeitig gibt es aber auch eine ganze Menge Dinge, die Jim beherrscht, die andere Kinder in dem Alter sich erst noch aneignen müssen. Deshalb habe ich aufgehört zu vergleichen. Die Entwicklung der Kinder ist schließlich auch kein Wettbewerb, bei dem es etwas zu gewinnen gibt. Außer es geht um Mario Kart. Denn ohne Witz: da geht’s um die Ehre. Da zu verlieren, kann ich nicht auf mir sitzen lassen!