Ein finanzieller und nervlicher Balanceakt

Ein finanzieller und nervlicher Balanceakt

25/06/2021 4 Von Marison

Ich hasse Bittsteller-Anrufe. Ich telefoniere gern und stundenlang. Mit meiner Familie oder lieben Freundinnen. Aber wenn ich irgendwo anrufen MUSS, geht mir die Pumpe. Nun, mit Jim geht es einher, dass ich andauernd mit einem Amt sprechen muss. Und das bedeutet eben auch, dass ich ständig als Bittstellerin auftrete. Es nervt. Können wir darüber mal sprechen?

Zu Beginn der Diagnostik wird erstmal gecheckt, ob körperliche Ursachen für die Entwicklungsverzögerung vorliegen. Das bedeutet, dass man tagelang am Hörer hängt, um Arzttermine zu vereinbaren. Hörtest, Hirnstammaudiogramm (BERA-Test), EEG, MRT… die Termine liegen für solche Untersuchungen nicht auf der Straße. Und die jeweilige Überweisung muss vom Kinderarzt auch korrekt ausgefüllt sein. Viel Orga-Kram, aber machbar.

Das macht 3,60 EUR

Der Wahnsinn geht dann erst los! Ergotherapie, Logopädie, Autismusdiagnostik beim KJP. Für die Ergotherapie und Logopädie brauchen wir alle 10 Einheiten eine neue Verordnung vom Kinderarzt. Vor der Pandemie musste jede Verordnung bei der Krankenkasse nochmal chefärztlich bewilligt werden, bei der Ergotherapie wurde zusätzlich noch ein Verlaufsbericht angefordert. Der kostet. Die Therapeut*innen schreiben den nämlich nicht gratis verständlicherweise. Mit dem Zettelkram rennt man dann zur Krankenkasse, stellt sich brav an, gibt die Papierwirtschaft ab und wartet. Nicht, dass es jemals zu einer chefärztlichen Untersuchung kommen würde… Quatsch! Man wartet nur auf einen Stempel. Und man wartet genau so lang, dass die Gratisviertelstunde auf dem Parkplatz der Krankenkasse gerade abgelaufen ist, wenn man zurück zum Auto geht. 3,60 EUR. Bitte, danke!

Vom langen Warten auf wenig Geld

Wer Glück hat, findet auch bald ein/e Therapeut*in. Bezahlt wird – jedenfalls bei uns – wöchentlich direkt nach der Therapiestunde. Nach 10 Einheiten erhalte ich eine Rechnung, die ich dann bei der Krankenkasse einreiche, um für die Logopädie ca. 45% des Gesamtbetrags erstattet zu bekommen. Bei der Ergotherapie sind es nur rund 25% des Gesamtbetrags. Wer bei der Krankenkasse schonmal eine Kostenerstattung eingereicht hat, weiß, dass man sich in Geduld üben muss. Das dauert. Lange. Auf eine Kostenerstattung für die Ergotherapie habe ich mal anderthalb Jahre gewartet. Kein Witz. Und auch mein absoluter Geduldsrekord.

Die Kinder bleiben auf der Strecke

Jim FernrohrEs macht mich wütend, denn diese Therapien sind wirklich wichtig für die Kinder. Und gleichzeitig eine enorme finanzielle Belastung für die Familien. Die Rückerstattung sollte doch kein goodwill der Krankenkassen sein? Viele Familien sind von diesen Erstattungen abhängig, um ihren Kindern die nächsten Therapiestunden bezahlen zu können. Wird die Erstattung nicht zügig durchgeführt, laufen Kinder Gefahr, auf der Strecke zu bleiben, weil sich Eltern entscheiden müssen, ob sie den Kühlschrank füllen, die Stromrechnung bezahlen oder Therapien ermöglichen. Das kann doch nicht richtig sein?! Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mit der Krankenkasse am Telefon hing, um herauszufinden, wann endlich der Antrag auf Kostenerstattung bearbeitet wird. Die Antwort war immer: „das können wir Ihnen nicht genau sagen, aber das dauert.“ Vielen Dank für nichts!

Wenn der Dispo zweimal klingelt

Die Autismusdiagnostik ist auch kostenpflichtig. Also wieder: Verordnung organisieren beim Kinderarzt und ein/e Kinder- und Jugendpsycholog*in finden, die irgendwann in den nächsten zwei Jahren mal einen Termin frei hat… viel Erfolg! Für die Diagnostik haben wir ca. 40% erstattet bekommen. Die gezielte Autismustherapie im Anschluss wird gar nicht bezuschusst von der Krankenkasse. Hallo Budget, hallo Dispo. Liebe Bank, da kommt bald was, ganz sicher. Irgendeiner der vielen Erstattungsanträge wird jetzt sicher mal bearbeitet.

Neben diesen eher klassischen Therapieformen gibt es natürlich noch ganz viele andere Therapien, die oft sinnvoll und förderlich wären, z.B. Musiktherapie oder Reittherapie. Die Krankenkasse zieht sich da elegant aus der Affäre. Keine Chance für einen Zuschuss. Bitte greifen Sie tief in ihre eigene Tasche und schauen Sie, ob Sie dort nicht doch noch den ein oder anderen Schein finden. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Krankenkasse, die Ihnen nicht sinnvoll erklären kann, wofür Sie eigentlich einen Beitrag zahlen.

Die Krankenkasse ist nicht allein der Übeltäter

Beim Finanzamt und beim Sozialministerium verhält es sich nicht anders. Die bürokratischen Hürden, die man dort überwinden muss, um überhaupt mal wahrgenommen zu werden, sind enorm. Da wird man fleißig einfach weiterverbunden von Mitarbeiter*in zu Mitarbeiter*in. Niemand weiß etwas genaues, niemand kann wirklich Auskunft geben. Haben Sie schon eine E-Mail geschrieben?

Es ist zermürbend. Das Thema Pflegegrad haben wir gar nicht erst angegriffen. So dringend ist es nicht und ich habe einfach null Bock mich mit noch mehr unmotivierten Ämtern und Behörden auseinander zu setzen. Und sicher gibt es Familien, die genau diese Hilfe dringender brauchen als wir.

Eine echte Herausforderung für viele Familien

Wir haben beschlossen, dass wir für Jim alles möglich machen, was wir können. Ich frage mich oft, wie vielen Kindern wichtige Therapien vorenthalten werden, weil ihre Eltern sich das schlicht nicht leisten können oder nicht die Kapazität haben, um sich andauernd mit Ämtern und Krankenkassen auseinander zu setzen. Für uns sind es nicht allzu viele Therapien, es ist überschaubar. Aber der Kampf darum strengt trotzdem an. Wie ist es für Familien, die Hilfsmittel brauchen, z.B. einen Rollstuhl, einen Reha-Buggy oder andere Mittel, die für die Pflege nötig sind? Fahrdienste, Anträge für Wohnungs-/Hausumbauten… die Liste ist lang. Diese Familien brauchen eine Standleitung zu den Krankenkassen, Nerven aus Stahl und einen sehr langen Atem. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.

Jim ApfelWir lassen unsere Kinder diese Therapien nicht zum Spaß machen. Sie sind nötig, um ihnen  wichtige life skills zu vermitteln. Sie sind lebenswichtig. Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum um diese Hilfe gekämpft werden muss. Es ist nicht die Schuld der Therapeut*innen. Das System funktioniert hier einfach nicht. Auf diesen Missstand muss man immer und immer wieder aufmerksam machen. Laut sein. Und bleiben. Kinder kosten Geld, heißt es. Das stimmt. Kinder mit Therapiebedarf sind eigentlich unleistbar. Das muss sich ändern.