Ein exklusiver Club

Ein exklusiver Club

03/07/2021 4 Von Marison

Ein neugeborenes Kind ist der garantierte Eintritt in einen Geheimclub, ob man will oder nicht. Das heißt, eigentlich ist es kein Geheimclub, er ist nur unsichtbar, solange man keine Kinder hat. Ach, unsichtbar ist er eigentlich auch nicht, man nimmt ihn bloß nicht so wahr. Der Club der Mütter.

Der Club der Mütter

Jim AusguckIm Club der Mütter nickt man sich wissend und mitfühlend zu, wenn die Augenringe mal wieder sehr ausgeprägt sind. Man spricht über Windelmarken, stillen oder nicht stillen, Kinderbauchweh und all die Dinge, die am Anfang den Alltag dominieren. Es werden coole Gadgets ausgetauscht, Rabattcodes für Babybekleidung gehandelt und erfolgversprechende Breirezepte verraten. Dieser Club ist aber vor allem auch eins: unglaublich kompetitiv. Welches Kind wird schneller trocken („abhalten, ihr solltet abhalten, echt!“), welches Kind läuft zuerst, welches Kind zahnt schlimmer („Backenzähne, alle auf einmal, ganz schlimm bei uns!“), wer hat das mit dem Essen besser im Griff („ihr macht kein BLW? WAAAS? Das ist das einzig Wahre!!“)… die Liste ist unendlich. Unendlich anstrengend. 

Jedes Kind findet seinen Weg

Am Anfang ist es besonders anstrengend, weil man sich in dieses Elternsein auch erstmal eingrooven muss. Und man alles richtig machen möchte. Ich habe (mehr schlecht als recht) versucht, mich da zu entspannen. Mein Mantra war: jedes Kind lernt [fill in blank]! Als Jims Altersgenossen schon durch die Gegend gerannt sind, hat er noch keine Anstalten gemacht zu laufen. Aber, hey, jedes Kind lernt irgendwann laufen. Und als andere Kinder es kaum erwarten konnten, ihren Eltern vom Tag im Kindergarten zu erzählen, war Jim still. Aber, hey, jedes Kind lernt irgendwann sprechen. Dachte ich. Ja, Jim läuft. Aber eben nicht alle Kinder lernen zu laufen. Und ja, Jim spricht. Auf seine Weise. Mein Mantra hat sich geändert in: jedes Kind findet seinen Weg. Die Competition aber hat sich nicht geändert. Da man aus dem Club nicht austreten kann, bin ich einfach stilles Mitglied. Das ent-stresst. Ich schaue von der Seitenlinie zu, wie die unterschiedlichen Elterncliquen miteinander in den Wettbewerb treten.  

Der exklusive Club

Jim SeifenblasenMit einer Diagnose tritt man dann plötzlich und ganz automatisch in einen noch geheimeren, unsichtbareren, exklusiveren Club ein: den Club der Eltern mit Kindern, die sich nicht an herkömmlichen Entwicklungsplänen orientieren. Am Anfang sträubt man sich vielleicht ein bißchen dagegen. Zumindest solange bis die Diagnose sacken konnte. Dann schmeisst man sich ins Getümmel. Auch dieser exklusive Club hat seine Cliquen. Nicht jede fühlt sich richtig an. Ich habe einige Zeit gebraucht, um meine Cliquen dort zu finden. 

Ich habe Zuspruch gesucht. Eltern, die mir sagen, dass nach Regen wieder die Sonne scheint. Dass nach schweren Phasen auch wieder gute Phasen kommen. Eltern, die mir Tipps geben, wenn ich nicht weiterkomme. Eltern, die sagen: hey, bei uns ist es im Moment genauso. Und manchmal auch Eltern, die nachvollziehen können, was es für mich bedeutet, wenn Jim auf einmal ein Lied aus dem Kindergarten singt. Fast alle dieser Cliquen sind online. Der Austausch findet fast ausschließlich in den sozialen Netzwerken statt. Und trotzdem sind sie das soziale Netz, das man so dringend braucht. Es ist menschlich, unmittelbar nach der Diagnose in Defiziten zu denken. In diesem Club wird der Blick auf das Schöne gelenkt. Wer im Paragraphendschungel des Sozialgesetzbuchs die Nerven verliert, findet hier mit Sicherheit Rat und Hilfestellung. 

Wettbewerbsfreie Zone

Was diesen Club für mich so besonders macht: wir kennen alle dieselben Situationen und machen dieselben Erfahrungen. Wir gehen nicht einfach zum Spielplatz, sondern wir gehen zum Spielplatz mit Notfallplänen im Kopf. Wir lesen kein Buch dort auf der Bank, wir müssen einen wachen Rundumblick haben wegen Weglauftendenzen. Wir planen keine Abenteuer für unsere Kinder, sondern sorgen für die 3 Rs: Routine, Ruhe und Rückzugsorte. Statt Vorlagen für Geburtstagseinladungen tauschen wir Vorlagen für Tagespläne aus. Wir machen uns füreinander auf die Suche nach einem Ersatzexemplar des Lieblingskuscheltiers, das es vor zig Jahren mal bei Tchibo gab und seine besten Zeiten schon gesehen hat. Wir haben gelernt, die Blicke der anderen an uns abprallen zu lassen: unsere Kinder einfach sie selbst sein zu lassen, ganz gleich was andere denken. Wir haben keinen Wettbewerb, hier gibt es kein besser oder schlechter.

Ein erfüllter Wunsch

Als Jim’s Journey an den Start ging, hatte ich den heimlichen Wunsch, die ein oder andere Familie zumindest online kennenzulernen, der es ähnlich geht wie uns. Heute, ein Dreivierteljahr nach Livegang des Blogs, habe ich so viele liebe und tolle Kontakt zu anderen Eltern mit autistischen Kindern, dass ich mich überhaupt nicht mehr alleine fühle. Ich habe wertschätzende, aufbauende Gruppen gefunden, in denen tolle Tipps und Ratschläge gegeben werden. Viele Menschen freuen sich mit uns, wenn Jim wieder einen Fortschritt gemacht hat. Und ich freue mich mit ihnen, wenn sie von ihren Kindern und deren Fortschritten berichten.

Und dann gibt es noch diese kurzen Aufeinandertreffen, die nicht online stattfinden. Aus einer zufälligen Begegnung im Treppenhaus des Therapiezentrums entsteht gerade eine Freundschaft. Eine Freundschaft, die sich in wöchentlichem Kaffeetrinken manifestiert, während die Kinder mit den Therapeutinnen Einkaufen spielen oder balancieren. So sehr ich die Nachrichten und E-Mails, Kommentare auf dem Blog und den Austausch in Facebook-Gruppen schätze – es geht am Ende doch nichts über ein persönliches Treffen, ein Gespräch face to face. Auch wenn es nicht mal eine Stunde dauert. Selbst der kürzeste Plausch mit jemandem, der/die ein ähnliches Leben lebt, ist Balsam für die Seele. Wie schön, dass wir uns getroffen haben, A.! Der nächste Kaffee geht auf mich.