Eierlauf mit verschärften Bedingungen
Laut einer Studie der University of Wisconsin ist das Stresslevel von Müttern autistischer Kinder vergleichbar mit dem von Soldaten im Kampfeinsatz. Ich kann das weder bestätigen noch widerlegen. Ich bin nicht Soldatin und – dem Himmel sei Dank – schon gar nicht im Kampfeinsatz. Der Vergleich erscheint mir krass. Mag stimmen, vor allem bei Familien, die mit (Auto-)Aggression, schweren Weglauftendenzen und anderem herausforderndem Verhalten zu tun haben. Für mich hat die Aussage aber zumindest dafür gesorgt, dass ich über mein Stresslevel nachgedacht habe.
Mein Alltag ist kein Kampfeinsatz. Eher ein andauernder Eierlauf. Nicht so bequem mit Suppenlöffel. Wir balancieren das Ei auf der äußersten Spitze einer Stricknadel. Und das Ei ist auch kein normales Ei, sondern ein Überraschungsei. Nicht das mit Spiel, Spaß, Spannung und Schokolade. Wenn mein Überraschungsei runterfällt, gibt es folgende zwei Szenarien: 1. Es passiert gar nichts. 2. Das Überraschungsei ist ein Flummi, der sich jedesmal, wenn er aufdotzt, teilt, bis tausend kleine Flummis unkontrolliert durch den Raum springen, sodass ich nicht weiß, wo ich zuerst anfangen soll mit einfangen.
Der Morgen bestimmt den Tag
Mir geht schon morgens die Pumpe. Unmittelbar nach dem Aufstehen bin ich dafür verantwortlich, ob der Tag gut wird oder nicht. Das hängt davon ab, ob ich mich an den Ablauf halte, der sich hier festgefahren hat. Trete ich nur einen Millimeter neben die Spur, rutscht der Flummi von meiner Stricknadelspitze und setzt eine Kettenreaktion in Gang, die ich nur mit allergrößter Mühe aufhalten kann. Ich weiß nicht, wie gesund es ist, wenn die Cortisol-Ausschüttungen andauernd wasserfallartig stattfinden. Morgens sorgt es zumindest dafür, dass ich hellwach und in Hab-Acht-Stellung bin. Wenigstens das. Solange morgens alles so ist wie immer, läuft der Tag. Dann ist Jim ausgeglichen und zufrieden. Letztens hatte ich vergessen Brot zu kaufen, also gab es Toast. Das hat Jim irritiert, weil ich das große Brotmesser nicht brauchte. Eine Kleinigkeit für mich, nicht der Rede wert. Für Jim eine unüberbrückbare Störung seiner Routine. Von da an ging nichts mehr. Alles war schwierig. Das anstrengendste für mich daran ist: es potenziert sich. Selbst der routinierteste Ablauf wird dann zur Prüfung. Ist das „so wie immer“ einmal gestört, kommen wir nicht mehr in den Tritt. Wenn die Miniflummis um mich rumfliegen und ich verzweifelt versuche, ihnen auszuweichen, dann ist das der Moment, in dem ich einfach brüllen und die Welt anhalten möchte. Denn: Himmel Herrgott nochmal, kann nicht einfach mal irgendwas ohne Genöhle funktionieren? Dann schüttel ich mich kurz und erinnere mich an den Satz: my child is not giving me a hard time, he is having a hard time. Einatmen, ausatmen, weitermachen, ruhig bleiben. Er macht es nicht, um mich zu ärgern, sondern weil er nicht anders kann.
Wetterwechsel, mein Waterloo
Anziehen. Funktioniert eigentlich ganz gut. Jim ist eitel. Er möchte selbst entscheiden, welchen Marvel-Pulli er trägt. Warum auch nicht?! Alles hat seine Reihenfolge hier: Socken, Hose, T-Shirt, Pulli, Schuhe, Kappe, Jacke, fertig! Heute werden es 29 Grad. Wetterwechsel machen mich fertig. Der Versuch, vom Pulli auf ein Longsleeve umzusteigen, ging schwer nach hinten los. Es flossen viele Tränen. Also gut, dann eben der Pulli. Aber dann können wir die Jacke zuhause lassen. Denkste! Wieder viele Tränen. Ok, denke ich, choose your battles. Dann eben in voller Montur in den Kindergarten. Ich weiß, dass Jim trotz Hitze heute Nachmittag Pulli und Jacke anhaben wird. Und dass alle Eltern sich fragen werden, warum ich mein Kind bei Sommerwetter wie für eine Nordpolexpedition einpacke… weil er es möchte. Und ich den Kampf nicht kämpfen will. Schließlich wird es in zwei Tagen wieder kühl. Wenn ich ihm jetzt die Jacke abgewöhne, zieht er sie in zwei Tagen nicht mehr an. Ich entscheide mich also für das kleinere Übel.
Fersengeld
Der Weg zum Kindergarten ist ein Dauerlauf. Jim rennt. Er freut sich. Das freut mich. Nur dass Jim kein Gefahrenbewusstsein an der Straße hat, freut mich nicht so. Er rennt und rennt und rennt. Und ich muss dafür sorgen, ihn vor jeder Straßenüberquerung einzufangen. Kleiner Tipp: man sollte sich vorher nicht die Hände eincremen, sonst glitscht einem das Kind buchstäblich durch die Finger. Ich hab’s ausprobiert. Ist nicht cool. Sobald ich Jim eingeholt habe und ihn an die Hand nehme, ist Stillstand. Will er nicht. Er will frei sein. Alles klar, Buddy, kein Problem, aber lass uns erst zusammen vor dem Betonmischer über den Zebrastreifen gehen. Bitte! Danke! Und jetzt: lauf! Nachdem ich Jim beim Kindergarten abgegeben habe, bin ich platt. Dann sammel ich langsam die Flitzeflummis ein und verstaue sie solange, bis ich Jim wieder abhole. Einfach mal kurz hinsetzen und durchatmen. Die eine Stunde am Morgen hat es in sich.
Mit allem komme ich ganz gut zurecht, manche Tage sind leichter, manche schwieriger. Das unterscheidet meinen Alltag nicht vom Alltag von Eltern neurotypischer Kinder. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Jims Tag eine besondere Struktur braucht. Dass er – wie andere Vierjährige auch – seinen Willen durchsetzt und Grenzen austestet. Dass er hier das Tempo vorgibt. Woran ich mich nicht gewöhnen kann: ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, dass Jim die Routine auch selbst einhält. Dass er sich an die von ihm aufgestellten Regeln hält. Meistens geht’s eh gut, aber manchmal wird’s wirklich gefährlich. Wie letzte Woche zum Beispiel.
Wenn’s mal nicht „wie immer“ ist
Jim hatte nie Weglauftendenzen. Im Gegenteil. Er blieb immer bei uns, schlenderte so vor sich hin. Einkaufen mit Jim war einfach. Während ich bezahlt habe, hat er seinen Kindereinkaufswagen zurückgebracht und mir dann beim Einpacken geholfen. Alle Mitarbeiter*innen im Supermarkt waren seine Fans, immer hat er ein kleines Geschenk abgestaubt, alle hat er bezirzt. Sehr entspannt. Seit letzter Woche ist damit Schluss. Während ich den Einkauf in meinem Rucksack verstaute, merkte ich nicht, dass Jim nicht den Einkaufswagen zurückbrachte. Aus dem Augenwinkel sah ich eine blaue Kappe mitten auf die Straße spazieren. So einen Sprint habe ich wohl noch nie eingelegt. Und ich habe mich auch noch nie so schreien gehört. Da stand er, mitten auf der Kreuzung. Und als er mich sah und hörte, wurde es für ihn zum Spiel. Er lief einfach weiter, kreuz und quer über den Fahrradweg wieder auf die Straße. Wahrscheinlich hatte ich ihn schnell am Arm gepackt, gefühlt dauerte das eine Ewigkeit. Weshalb ich ihn danach so geschimpft habe, hat er nicht wirklich verstanden. Mir war schlecht. Und mein Gewissen war auch schlecht. Ich hatte nicht aufgepasst. Ich hatte darauf vertraut, dass er tut, was er IMMER tut.
Ich freue mich, dass Jim Spaß an Bewegung gefunden hat. Dass er wild geworden ist und tobt. Und gleichzeitig macht mir das große Sorgen. Denn damit hat plötzlich auch die Unberechenbarkeit bei uns Einzug gehalten. Von Null auf Hundert in einem Wimpernschlag. Das kam nicht schleichend, sondern von jetzt auf gleich. Blitzschnell. Ohne Ansage. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet. Freud’ und Leid liegen eben oft nah beieinander. Ich habe das Gefühl, wir sind in einem neuen Level angekommen, das wir erst überblicken müssen. In den ein oder anderen Abgrund werden wir wohl reinfallen, einige schwierige Stellen mehrfach üben müssen, bis wir den Dreh raushaben. Verschiedene Tastenkombinationen ausprobieren und manchmal mögliche Lösungen googeln, wenn wir nicht weiterkommen. Aber eins ist sicher: eines Tages werden wir total sicher und souverän auch durch dieses Level marschieren, Jim immer vorneweg. Im Laufschritt. Hauptsache Bewegung. Nichts ist schlimmer als Stillstand. Auch wenn der Blutdruck durch die Decke geht und die Stricknadelspitze immer spitzer wird.