Die Sache mit der Kommunikation

Die Sache mit der Kommunikation

22/11/2022 0 Von Marison

Wenn es ein Thema gibt, das bei Eltern autistischer Kinder wirklich emotional beladen ist, dann ist es wohl das Thema Verbalsprache. Es ist quasi unser „ist er*sie schon trocken?“. Das ist ja auch verständlich, denn welche Eltern haben sich nicht nach dem ersten gebrabbelten „Mama“ oder „Papa“ gesehnt und danach alle Verwandten und Bekannten mit Videos davon auf WhatsApp versorgt, ob es sie nun interessiert hat oder nicht?!

Der Spiegel

Jim lachtVor einiger Zeit habe ich auf Instagram immer wieder darauf hingewiesen, dass Verbalsprache nicht das Nonplusultra der Kommunikation ist, dass es ganz viele Wege gibt. Ich habe Beiträge von anderen dazu geteilt und bin nicht müde geworden, immer wieder zu betonen, dass nicht das „Wie“ wichtig ist. Im Anschluss hatte ich einen Austausch mit einer lieben Mutter, die mir auf sanfte Art den Spiegel vorgehalten hat mit dem Satz: „Das schreiben halt meist Eltern, deren Kinder sprechen können!“. Und tatsächlich: diese „aber jede Form der Kommunikation ist gleich viel wert“-Sätze werden vor allem von denen gesagt, die in irgendeiner Form Verbalsprache für die Kommunikation mit ihrem Kind nutzen können. Ich habe lange über diesen Austausch nachgedacht. Und auch über unsere Kommunikation mit Jim. 

Jim spricht. Das steht außer Frage. Mittlerweile. Bis kurz vor seinem vierten Geburtstag hat er das nicht getan. Wie viele andere Eltern wussten wir nicht, ob wir eine alternative Kommunikation heranziehen müssten oder nicht. Und auch wenn Jim spricht, so folgt seine Sprache doch anderen Regeln als deine oder meine. Man muss sich einhören. Und ihn auch in seinem Alltag verfolgen, um zu verstehen. Das bedeutet auch, dass der Kreis derjenigen, die ihn verstehen, begrenzt ist auf seine engsten Bezugspersonen. Und auch uns gelingt es nicht immer, denn etwas mag in seinem Kopf eine ganz logische Verknüpfung sein, aber wir waren vielleicht nicht dabei, als er diese Verknüpfung hergestellt hat. 

Unser Leben in einer Cars-Simulation

In unserem Fall ist es so, dass wir uns eben auch mit Jims Spezialinteresse auseinandersetzen müssen, um mit ihm „im Gespräch“ zu bleiben. Sein Spezialinteresse ist der Pixar-Film Cars, aber das wissen hier wahrscheinlich eh alle. Wenn wir zum Beispiel im Park sind und Jim mich nicht mehr sehen kann, dann ruft er nicht nach mir („Mama, wo bist du?“), sondern er spielt eine Filmszene mit mir nach. „Mack, wo bist du?“ – „Ich bin hier, Lightning!“. 

Überhaupt besteht unser Tag aus einem einzigen Frage-Antwort-Spiel. Ich frage, Jim antwortet. Oder er souffliert mir die Frage, die ich ihm stellen soll. Es sind Ja-Nein- oder Entweder-Oder-Fragen. So haben wir uns gut eingerichtet. Durch einfaches, gezieltes Fragen komme ich an viele Informationen. Nur beim Thema Kindergarten schweigt Jim. Danach darf ich nicht fragen. What happens in kindergarten, stays in kindergarten. Dabei ist es wohl das Thema, das mich am meisten interessiert.

Little did I know

Ich bin ganz offen: unser Alltag ist leichter geworden als Jim anfing zu sprechen. Vor allem dann, wenn es um Schmerzen geht. Das konnte Jim mit ca. fünf Jahren ganz gut lokalisieren und benennen. Vorher ging das nicht. Und ich erinner mich gut daran, dass es mich unglaublich gestresst und angegriffen hat, dass ich oft das Gefühl hatte, dass ihm etwas wehtut, er mir aber nicht sagen oder zeigen konnte was. Das war hart. Natürlich habe ich abends mal geheult, weil ich Angst hatte, dass Jim niemals „Mama“ sagen würde. Und ich war unendlich wütend auf all die Menschen, die mir ein „sei doch froh, dir bluten wenigstens nicht die Ohren“ entgegen gerotzt haben. Little did I know…

Ich kann nur sagen, wie wir es gehandhabt haben: der Logopäde war sich sicher, dass Jim sprechen würde. Sehr wohl mit dem Hinweis, dass seine Verbalsprache anders sein würde. Er wollte, dass wir Jim bis zu seinem vierten Geburtstag Zeit geben. Das haben wir getan. Und tatsächlich ging es bei ihm kurz vor seinem vierten Geburtstag los. Wir haben nie Alternativen eingesetzt. Keine Bildkarten oder ähnliches. Das – und das betone ich nochmal sehr – war mit dem Logopäden so besprochen. Einem Kind keine Alternative zu bieten bedeutet noch lange nicht, dass es dann sprechen wird.

Gleichzeitigkeit

Ich bin weiterhin guten Gewissens der Überzeugung, dass jede Form der Kommunikation gleich wertvoll ist. Und gleichzeitig verstehe ich, dass viele Eltern wirklich struggeln, wenn ihre Kinder nicht sprechen. Das habe ich auch. Denn ich wollte, dass mein Sohn es leicht hat im Leben. Und da ist die Macht der Verbalsprache einfach nicht zu unterschätzen. Und ich wollte für mich auch ein Stück vom Normalitätskuchen, den meine Freund*innen unter sich aufteilten. Ich habe Verständnis, dass Eltern alle Möglichkeiten für den Spracherwerb ausschöpfen. Und trotzdem möchte ich daran erinnern, dass es einfach manchmal so ist wie es ist. Dass Verbalsprache auch mit der tollsten Therapie nicht zwingend einsetzt. Oder dass Verbalsprache nicht immer gleichzusetzen ist mit funktionaler Kommunikation. 

Jim im LaubFrüher kam das Essen immer genau dann, wenn man sich gerade eine Zigarette angezündet hatte. Oder der verspätete Bus kam exakt in dem Moment, als man zu Fuß auf halber Strecke zur nächsten Haltestelle war, um nicht in der Kälte rumzustehen. Jim fing an zu sprechen, als ich gerade meinen Frieden damit geschlossen hatte, dass er nicht sprechen würde. Es war damals ein emotionales Thema für mich. Und ist es auch heute noch. Denn auch wenn es so scheint: es ist nicht selbstverständlich. Vor allem ist verbales Sprachvermögen kein Indikator für Intelligenz oder Sprachverständnis. Bitte bedenkt das. Ein Kind, das nicht spricht, hat trotzdem viel zu sagen. Und ein Kind, das nicht spricht, kann trotzdem verstehen.