Die Kunst des Mitteilens
Jim spricht. Unentwegt. Ohne Punkt und Komma. Hier ist Dauerbeschallung. Und nein, ich beschwere mich nicht. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass aus diesem stillen Kind ein Dauerquassler wird? Nun ist es so: Jim plappert den ganzen Tag, vom Aufstehen bis zum Einschlafen. Wer ihn verstehen möchte, muss sich allerdings ein bißchen einhören und so manches Mal um die Ecke denken.
Wie Vokabeln lernen
Für Jim kommt Sprache nicht natürlich. Oder zumindest nicht so natürlich wie für andere Kinder. Er lernt Sätze, Phrasen und Satzphragmente auswendig. Ein bißchen wie früher im Lateinunterricht Vokabeln lernen. Er merkt sich, zu welcher Gelegenheit sie gesagt werden. Und so setzt er sie dann ein. Manchmal ist es ein Filmzitat, manchmal ein Satz, den er häufig im Kindergarten hört. Und ab und zu auch eine Aufforderung, die von uns Eltern an ihn gerichtet ist. Oft wirkt es wie belangloses Vorsichhinplappern. Tatsächlich verbirgt sich dahinter aber seine Form des Mitteilens. Woran wir merken, dass er auswendig lernt? Daran, dass er weiterführende Fragen (meistens) nicht beantworten kann.
Mit einem Lied zum Ziel
Letzte Woche habe ich Jim vom Kindergarten abgeholt und er hat den ganzen Heimweg über Happy Birthday – oder eher Hääbüüdäi – geträllert. Ein Mädchen in seiner Gruppe hatte Geburtstag und das haben sie an dem Tag gefeiert. Jim hat mir also mit dem Lied erzählt, wie sein Tag war. Wer genau Geburtstag hatte, erfahre ich auch nur aus dem Lied. Denn auf meine Nachfrage „wer hatte denn heute Geburtstag?“ antwortet Jim konsequent und sehr bestimmt mit „Ja!“.
Hat Jim Hunger, singt er das Mittagessen-Lied aus dem Kindergarten, das auf die Melodie von „The wheels on the bus go round and round“ gesungen wird. Wer jetzt keinen Ohrwurm hat, hat entweder keine Kinder oder hat sie nie YouTube schauen lassen. Wenn er keine Lust auf singen hat, dann geht folgender Monolog ab (Namen geändert): „Ja, Paula? Möchtest du essen? Ja oder nein? Ja. Ja, Moritz? Was möchtest du? Kann ich bitte mehr haben? Ja.“ Das geht dann meistens so lange, bis er alle seine Kumpels aus dem Kindergarten einmal im Kopf mit Essen versorgt hat.
Verzwickte Kombination
Während andere Eltern sich zuhause Mühe geben, „schön“ zu sprechen und bestimmte Wörter nicht in Anwesenheit der Kinder zu sagen, besteht unsere Aufgabe eher darin, immer gleich zu sprechen. Also nicht zu viele Satzvariationen zu nutzen oder unnötige Füllwörter einzubauen. Denn Jim kombiniert dann, was für ihn logisch erscheint, aber nicht zwingend richtig ist. So wurde aus meinem „Setz dich hin!“ und „Setz dich jetzt hin, bitte!“ für Jim: Setz dich jetzt hin bitte hin. Weil ich versuche das schreckliche Wort wegtun aus meinem Wortschatz zu streichen, muss ich mich oft selbst verbessern. Dann sage ich: komm, wir müssen das wegtun… äh… räumen. Seitdem heißt das Wort bei Jim „wegtu-eumeln“. Mir gefällt wegtu-eumeln so gut, dass ich wirklich aufpassen muss, es nicht selber zu verwenden. Das geht mir übrigens mit den meisten von Jims Wortkreationen so.
Beim Schokokeks ist Jim schon eine Runde weiter. Da fragt er ganz richtig „Mama, kann ich bitte einen Schokokeks haben?“. Obwohl ich ihn auch meistens an den ganzen Satz erinnern muss, sonst bleibt’s bei einem knackigen „bitte, Mama, Schokokeks!“. Immerhin ist er höflich dabei. Wenn er das auf etwas anderes umlegen will – zum Beispiel seinen Lieblingsfilm -, wird auch wieder deutlich, dass Jim auswendig lernt und trotzdem versucht zu kombinieren. Denn da lautet seine Frage „Mama, kannst du bitte Lightning McQueen anmachen haben?“. Dann feier ich ihn erstmal sehr ab dafür, dass er eine ganze Frage gestellt hat und wiederhole die Frage einfach nochmal richtig. Denn noch wichtiger als richtig sprechen ist, dass Jim Spaß daran hat.
Jims Welt besteht aus Tatsachen
Jims Sprachwelt besteht aus einer Frage (was ist das?) und ganz vielen Fakten. Jim stellt einfach den ganzen Tag lang fest. Die Sonne scheint. Es regnet. Das ist Lightning McQueen. Die Maus ist traurig. Das tut weh. Die Hose ist nass. Mama ist da. Es ist laut. Schau, das ist der Mond. Die Kommunikation ist dabei meist einseitig. Er erzählt uns so, was ihn beschäftigt, was er aufnimmt, was er sieht. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Gespräche nicht wechselseitig sind, dass Jim uns so gut wie nie auf Fragen antwortet. Wir haben gelernt, ihm zuzuhören. Und trotzdem bieten wir ihm das Frage-Antwort-Spiel immer wieder aufs Neue an. Denn nur weil er das jetzt nicht macht, bedeutet das nicht, dass es nicht irgendwann mal kommt.
Jim hat uns in den letzten Monaten schon so oft überrascht. Vieles konnten wir uns gar nicht vorstellen und dann war es plötzlich da. Aber eben in Jims eigenem Tempo. Gestern zum Beispiel: ich habe mein Handy aufgeladen und es einfach nur vom Ladekabel abgezogen. Jim hat sich sofort seinen Playmobil-Feuerwehrmann geschnappt, mich zur Steckdose gezogen und mit strengem, erzieherischen Ton gesagt: „immer Stecker rausziehen!“. Und erst abends ging mir ein Licht auf. Das ist nämlich ein Zitat von Feuerwehrmann Sam, deshalb auch die Playmobil-Figur. Smart kombiniert.
So schwierig die Kommunikation mit Jim manchmal ist, nichts fasziniert mich so sehr, wie „seine Sprache“ zu lernen. Und jeden Tag lernt nicht nur Jim dazu, sondern wir auch. Jeden Tag kommen wir der Verständigung ein kleines Stückchen näher. Das ist vor allem Jims Verdienst, denn er bleibt hartnäckig, auch wenn wir ihn mal nicht verstehen. Er bleibt am Ball, versucht es immer und immer wieder, bis es bei uns klick macht. Dieser kleine, große Junge hat so viel zu erzählen, die Welt wird noch von ihm hören. Macht euch auf was gefasst.