Devise „Locker machen“
Es ist ruhiger geworden hier. Das bedeutet nicht, dass es nichts zu erzählen gibt. Ich muss einfach detoxen. Vor allem was Instagram betrifft. Und außerdem findet ja auch noch das Leben statt, das gelebt werden will. Soll ich euch mal was sagen? Sich nicht andauernd mit Stories und Posts zu beschäftigen, ist unglaublich befreiend. Nicht immer die Kamera parat zu halten, um auch ja genug Fotomaterial zu haben. Nicht ständig Notizen ins Handy zu hämmern, um genug Stoff für die nächsten zig Beiträge in der Tasche zu haben. Ich mach mich einfach mal locker.
Zu viel Frust
Überhaupt habe ich in den letzten Monaten beschlossen, mich locker zu machen. Auch – oder gerade – in Bezug auf Jim. Oder besser: in Bezug auf Autismus. Die mentale Beschäftigung mit dem Thema hat mich ausgelaugt. Und hat letztendlich auch zu wenig geführt. Außer zu viel Frust. Ich hatte mir vorgenommen, für Jim zu kämpfen. Ihm alle Chancen und Wege zu ermöglichen. Allen den Mittelfinger zu zeigen, die Jim aufgrund seiner Diagnose nicht haben teilhaben lassen. Und manoman, war ich verbittert. Ich kämpfe immernoch. Und hole auch hin und wieder den Mittelfinger raus. Aber ich haushalte besser mit meinen emotionalen Ressourcen. Nicht alles ist einen Kampf wert.
Mich haben unglaublich viele Nachrichten auf allen Wegen erreicht von lieben Menschen, die hier, auf Instagram und facebook mitlesen. Ich freue mich über den Austausch, wirklich. Manchmal machen mich die Nachrichten aber auch stutzig oder wirken länger nach als mir lieb ist. Mir werden Videos geschickt mit der Bitte zu beurteilen, ob das gezeigte Verhalten des Kindes auf Autismus hinweisen könnte. Oft werde ich um Rat gefragt in Bezug auf Therapiemöglichkeiten. Meistens allerdings werde ich gefragt, wie wir es geschafft haben, dass Jim „so toll in die Sprache gekommen“ ist. Keine dieser drei Fragen kann ich beantworten.
Ich bin keine Expertin, ich bin Mutter
Ich kann diese Fragen nicht beantworten, denn: ich bin Jims Mutter, nicht seine Therapeutin. Und ganz wichtig: ICH. BIN. KEINE. AUTISMUS. EXPERTIN. Ich lese keine Fachbücher über Autismus und besuche keine Seminare zu dem Thema. Ich nehme nicht teil an Jims Therapiestunden. „Pädagogisch wertvoll“ ist kein Konzept, das wir zwingend zuhause verfolgen. Bei uns hängt kein strukturierter Tages- oder Wochenplan. Ich kenne mich überhaupt nicht aus mit all den Paragraphen zu staatlichen Hilfen. Jim hat keine Assistenz im Kindergarten. Ich wüsste nichtmal, wie ich das angehen müsste, wenn wir sie bräuchten. Ja, natürlich befasse ich mich mit Autismus. Aber es ist morgens nicht mein erster Gedanke. Und ich gehe auch abends nicht mit dem Gedanken ins Bett, dass mein Leben schwerer ist als das Leben anderer.
Wir sind nicht der Benchmark. Jede Familie muss für sich entscheiden, wie sie das handhabt. Bei uns sind viele Dinge möglich, die bei anderen nicht möglich sind. Mir ist das bewusst. Mir ist auch sehr bewusst, dass Jim Autist ist. Nicht jeden Umstand in unserem Leben auf Jim zu schieben, hat aber auch viel entspannt. Ich habe aufgehört mir im Vorhinein schon zu viele Gedanken zu machen, wie Jim wohl reagieren wird. Wir probieren einfach aus. Das Ergebnis ist fast immer: wenn ich lauter Notfallpläne im Kopf parat habe, brauche ich sie nicht, denn dann läuft alles sehr entspannt und ruhig ab. Aber wenn ich mich in Sicherheit wähne, wenn ich glaube, dass eh alles glatt laufen wird, wird es garantiert schwierig. Zumindest darauf kann ich mich verlassen.
Woran es liegt
Dass Jim in einen Regelkindergarten ohne Assistenz gehen kann, liegt sicher auch daran, dass er schon sehr früh in die Betreuung kam und sich dort sehr wohl fühlt. Und daran, dass seine Pädagoginnen wahnsinnig engagiert sind und ihn schon so lange kennen. Dass Jim in eine reguläre Turnstunde gehen kann, liegt auch daran, dass ich sehr offen mit den Trainerinnen gesprochen habe, sie es einfach ausprobiert haben und Jim so mitmachen lassen, wie es für ihn am besten funktioniert. Dass Jim „so toll in die Sprache gekommen“ ist (seltsamer Ausdruck), liegt daran, dass wir verstanden haben, dass er Sprache anders lernt als neurotypische Kinder. Er lernt mit YouTube-Videos und übt das Gelernte dann durch Konversation mit uns. Er hat keine von uns festgelegte, erlaubte Bildschirmzeit, er entscheidet selbst.
Bitte freimachen!
Ich habe mich also locker und frei gemacht. Frei von dem Grundsatz, dass Kinder grundsätzlich nicht vor den Bildschirm gehören. Frei von der Erwartungshaltung, dass Kinder in einem bestimmten Alter etwas können müssen. Und vor allem frei von der Haltung, dass neurotypisch=normal bedeutet. Ich versuche, mich davon freizumachen, andere für mein Seelenheil verantwortlich zu machen, seien das nun Institutionen oder andere Menschen. Da muss ich noch üben. Und ich habe mich freigemacht vom ewigen Pathologisieren.
Nicht alles muss immer therapiert werden. Und obwohl ich nachvollziehen kann, dass man, solange das Kind noch klein ist, alles versucht, um – vermeintliche – Defizite aufzuholen, um dem Kind ein – vermeintlich – besseres, neurotypisches Leben zu ermöglichen, ärgere ich mich manchmal, dass ich das damals so wenig hinterfragt habe. Und bin froh, dass wir vieles wieder haben sein lassen, weil es uns schnell dann doch so unsinnig erschien. Ich mache mir wenig Sorgen um Jims Zukunft. Er wird seinen Platz einnehmen in der Welt. Und bei uns hat er sowieso einen Platz. Alles andere werden wir auf uns zukommen lassen.
Meine Sicht
Wenn ihr mich also um Rat fragt, dann gebe ich euch meine Sicht der Dinge mit: als Eltern seid ihr nicht die Therapeuten eurer Kinder. Ihr seid ihr safe space. Tut das, was sich für euch als Familie richtig anfühlt. Wägt dabei ab, ob ihr Dinge wollt, weil sie EUCH wichtig sind. Denn was euch wichtig ist, ist nicht immer wichtig (oder gut) für das Kind. Hadert nicht mit der Diagnose und glaubt nicht, dass ein neurotypisches Leben mehr oder weniger erstrebenswert ist. Nehmt Hilfe in Anspruch, wenn ihr sie braucht. Und vertraut auf euer Bauchgefühl. Vergleicht nicht. Wo und wann auch immer es möglich ist: Macht euch locker!
♥️
Toller Text-meiner Meinung gilt all das für alle Eltern und Kinder.
Egal ob neuro -typisch oder neurodivers.
Auch wenn es manchmal schwer fällt, sollten wir viel öfter auf unser Bauchgefühl hören!
Echt toll geschrieben-hat mir wieder bewusst gemacht mich „locker zu machen“ und meinem Kind zu vertrauen.
Danke!
Starke Aussage. Ich identifiziere mich total damit, obwohl mein Kind eine andere Diagnose hat.
☺️
Alles Liebe Ketoqueen 😀