Der hört nix! Oder doch?

Der hört nix! Oder doch?

22/10/2020 5 Von Marison

Anfang 2019 begann unsere Suche nach einer Diagnose. Da war Jim knapp zweieinhalb Jahre alt. Begonnen hatte es mit einem Besuch beim Kinderarzt wegen einer Erkältung. Unser Kinderarzt wurde stutzig als ich ihm erklärte, dass Jim mir nicht zeigte, ob er irgendwo Schmerzen hätte. Theoretisch sollten Kinder in dem Alter ca. 50 Wörter sprechen und Zweiwortsätze bilden können. Jim sagte… nichts. Noch kein Grund zur Panik, denn Kinder entwickeln sich nicht immer nach einer Checkliste, die einen sind schneller, die anderen eben langsamer. Trotzdem riet uns der Kinderarzt sehr zum erneuten Hörtest. Ein Kind, das nicht hört, kann schließlich nur schwer sprechen lernen.

Gesagt, getan: der Termin beim HNO-Arzt war schnell ausgemacht. Wer kleine Kinder hat, weiß: es gibt gute und schlechte Tage bei Ärzten. Manchmal hält das Kind gut durch und macht mit. Manchmal klappt es einfach nicht. Jim ließ beim besten Willen nicht zu, dass man ihm den Kopfhörer ins Ohr steckte. Also gingen wir unverrichteter Dinge wieder. Ein erneuter Termin verlief auch nicht erfolgreicher. Nun gut, dann sollte es eben ein anderer Arzt versuchen. Beim nächsten HNO-Arzt verlief die Untersuchung etwas besser, aber ein eindeutiges Ergebnis konnte nicht erzielt werden und man riet uns, einen BERA-Test (Hirnstammaudiometrie) machen zu lassen, um eindeutig bestimmen zu können, ob Jim hörte.


Der hört nix! Ist aber nicht schlimm.

Ich werde mich noch lange an den Professor erinnern, bei dem wir den BERA-Test durchführten. Es gibt Ärzte, die einem sofort ein gutes Gefühl geben, bei denen man sich genau richtig aufgehoben fühlt. Er empfing uns in seiner Privatordination. Klar, wir hätten das auch „auf Kasse“ machen lassen können, aber die Wartezeiten sind enorm und wir wollten eine schnelle Antwort haben. Das Gespräch mit dem Professor hat sich eingebrannt bei mir. Er schaute Jim in die Ohren, lächelte und sagte: „Technisch ist alles da, was er zum Hören braucht. Aber ich glaube, der hört nix! Ist aber nicht so schlimm, da kann man was machen. Schwieriger ist es, wenn er hört und trotzdem nicht spricht. Sie kommen nächste Woche in die Ambulanz zur Hirnstammaudiometrie. Dann schauen wir weiter.“

Auf dem Weg zum Auto habe ich geheult. „Der hört nix!“ Das konnte nicht sein. Wir waren uns sicher, dass Jim hörte. Er reagierte ja auf seinen Namen, auf alle möglichen Geräusche. Aber es machte den Anschein, als würde er nur dann hören, wenn er wollte. Die Nächte vor der Hirnstammaudiometrie schlief ich schlecht. Ich war nervös und hatte Angst vor der Diagnose.

Einige Tage später ging ich mit Jim in die Klinik für den Test. Er musste Mittagsschlaf machen und sollte dann Kopfhörer aufgesetzt bekommen. Erstaunlicherweise schlief er auch ein – nach mächtigem Protest. Der Test konnte durchgeführt werden und nur zwei Tage später saßen wir wieder beim Professor in der Ordination zur Befundbesprechung. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie“ sagte der Professor. „Die gute ist: Jim hört einwandfrei, alles tiptop, besser geht nicht. Die schlechte: ich kann an dieser Stelle nicht mehr für Sie tun.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs deutete er immer wieder an, es könne sich um etwas Komplexeres handeln. Zum Schluss sagte er: „Wissen Sie, vielleicht programmiert Jim mit acht Jahren seine eigene Software, hat aber noch immer kein Wort gesprochen.“ und verwies uns an eine von ihm sehr geschätzte Kollegin, eine Kinderneurologin, die uns hoffentlich weiterhelfen könnte.


Bitte warten!

Auf dem Weg zum Auto musste ich mich setzen. Meine Emotionen ordnen. Zum einen war ich wahnsinnig erleichtert, dass Jim hörte. Zum anderen überkam mich eine totale Hilflosigkeit. Ich war fest davon ausgegangen, eine Antwort zu erhalten. Und jetzt hatte ich noch mehr Fragezeichen im Kopf als vorher. Wenn Jim doch hörte, warum reagierte er dann so wenig? Warum versuchte er nicht, Laute zu machen? In dem Moment legte ich all meine Hoffnung auf eine schnelle Diagnose in die Kinderneurologin. Little did I know… 

In der Zwischenzeit hatte der Kinderarzt uns zusätzlich eine Überweisung in die sozialpädagogische Ambulanz ausgestellt. Anders als erwartet kann man da nicht einfach einen Termin vereinbaren, sondern erhält zunächst einen Fragebogen zu all den Auffälligkeiten des Kindes, den man wieder zurücksendet. Und dann heißt es warten. Warten. Warten. Nach einigen Monaten erhielten wir eine Antwort: ja, das sei alles auffällig, aber es gäbe noch auffälligere Kinder. Jim käme auf eine Warteliste für die Erstuntersuchung. Man würde sich bei uns melden.

Das ist beinahe 2 Jahre her. Still ruht der See.

 

Weiterlesen: Teil 2/3 der Diagnose-Odyssee – EEG, MRT, ASS, MfG